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Köln und RegionWarum Menschen monatelang auf einen Platz in der Psychotherapie warten

Lesezeit 4 Minuten

Die Plätze für ambulante Psychotherapien sind rar – auch für Kinder- und Jugendliche

Das Gesundheitsministerium sagt, es gebe eine Überversorgung mit Psychotherapeuten in NRW. Die Daten seien „falsch und irreführend“, sagen Experten.

Für Joshua fühlen sich die Tage schwer und unerträglich an. Wenn er es aus dem Bett schafft und in den Supermarkt, dann ist es gut gelaufen. Wenn nicht, bringt die Mutter dem 32-Jährigen, was er zum alltäglichen Überleben braucht.

„Ich brauche Hilfe, so schnell wie möglich“, sagt der junge Mann, der unter Depressionen leidet. Das zu akzeptieren, dafür hat er lange gebraucht. Seit etwa vier Monaten sucht Joshua (Name geändert) einen ambulanten Therapieplatz. „Aber gefunden habe ich noch keinen“, sagt er.

Angebliche Überversorgung mit Therapeuten

Es klingt verzweifelt, wenn der Kölner das sagt. Eine Verzweiflung, die es eigentlich nicht geben dürfte. Denn glaubt man den Zahlen des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums, gibt es hierzulande eine nahezu flächendeckende Überversorgung mit Psychotherapeutinnen und -therapeuten. In der Bedarfsplanung für NRW seien mit Stand Oktober vergangenen Jahres 4021,7 Vollzeitstellen mit einem Kassenvertragssitz vorgesehen gewesen, heißt es in einem Papier des Ministeriums. Tatsächlich aber habe es 5451,2 genehmigte und nahezu vollständig besetzte Stellen gegeben.

Die mit Abstand größte Uberversorgung gibt es demnach in Köln. Hier seien 386,9 Stellen für Therapeutinnen und Therapeuten vorgesehen, tatsächlich aber 688,2 genehmigt worden. In Düsseldorf gibt es demnach 281,9 Vollzeitstellen mit Kassenvertragssitz (Soll 215,2), in Bonn 269,8 (118,9), in Leverkusen 95 (56,2) im Rhein-Erft-Kreis 112,7 (97,2), in Rhein-Berg 83,3 (57,1) und in Rhein-Sieg 127,9 (109,2). Auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sieht keine Problemlage mit langen Wartezeiten. „79 Prozent der Patientinnen und Patienten warten nach der Kontaktaufnahme weniger als vier Wochen auf ein Erstgespräch“, sagt GKV-Sprecher Helge Dickau. Und bis zum Beginn einer Therapie würde dann bei 97 Prozent der Betroffenen „erneut maximal vier Wochen“ vergehen.

Diese Zahlen seien „falsch und irreführend“, sagt Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer NRW. Nach Erhebungen der Bundestherapeutenkammer würden 40 Prozent der Betroffenen nach ihrem psychotherapeutischen Erstgespräch, das im Schnitt nach etwa fünf Wochen stattfinde, drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung warten. Im Schnitt seien es bundesweit 19,9 Wochen. In NRW warte man besonders lang auf einen festen Therapieplatz – im Schnitt 23,1 Wochen oder fast sechs Monate.

„Zahlen der Krankenkassen haben falsche Kalkulationsgrundlage“

„Und die Nachfrage steigt zunehmend, unter anderem durch Corona“, so Höhner. Wenn Erwachsene monatelang auf Hilfe warten müssten, sei das schon schlimm genug. „Aber man stelle sich die Situation eines Idötzchen vor, der nach vier Wochen in der Schule massive Auffälligkeiten wie zum Beispiel Einnässen und Stottern entwickelt, dann erst mal zum Kinderarzt geht, der die Mutter – zum Glück immer häufiger – an eine Erziehungsberatungsstelle verweist, wo es dann – was schnell wäre – nach vier Wochen einen Termin gibt und dort dann der psychosoziale Behandlungsbedarf festgestellt wird“, sagt Höhner. Bis es dann ein konkretes Behandlungsangebot gebe, dauere es inklusive dieser Vorlaufzeit „sehr optimistisch gerechnet“ in Summe mindestens ein halbes Jahr.

„Ein halbes Jahr im Leben eines Siebenjährigen ist unheimlich viel Zeit, die Bildungskarriere ist extrem belastet“, so Höhner. Die Erklärung für den Widerspruch zwischen den „quälend langen Wartezeiten und der angeblichen Überversorgung mit Therapeuten“ sei, dass die unter anderem vom NRW-Gesundheitsministerium veröffentlichten Zahlen auf einer „falschen Kalkulationsgrundlage“ beruhen. Mit der Einführung der Berufe der Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten sei 1999 eine Bezugsgröße festgelegt worden, die schon damals falsch war.

„Ich bin damals für NRW von einer Unterschreitung des Bedarfes um etwa 40 Prozent ausgegangen – wir sind also deutlich unter Null gestartet“, so der Präsident der Psychotherapeutenkammer. Unabhängig davon habe sich der Versorgungsbedarf in den vergangenen Jahrzehnten „erheblich ausgeweitet“. Alleine in den letzten zehn Jahren hätten sich „die Zuweisungen und Nachfrage in etwa verdoppelt“.

SPD fordert mehr deutlich mehr Kassensitze für Therapeuten

Die SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag fordert deshalb mehr kassenfinanzierte Therapeuten. „Bereits vor den aktuellen Krisen hat der Gemeinsame Bundesausschuss einen Bedarf von zusätzlichen 2400 Praxissitzen bundesweit ermittelt – diese Erkenntnis ist von September 2018“, sagt Rodion Bakum, Mitglied im Landtagsausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Seitdem jedoch seien lediglich 738 neue Praxissitze zugelassen worden, in Nordrhein-Westfalen gerade einmal 117. In diesem Kontext von einer Überversorgung zu sprechen, sei schlichtweg „Realitätsverkennung“.

Deshalb brauche es „ein politisches Rezept für die seelische Gesundheit in unserem Land: mehr Fachkräfte, mehr Kassensitze, mehr Aufklärung“, ergänzt Lisa-Kristin Kapteinat, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion. Die Bedarfsplanung des Gemeinsamen Bundesausschusses müsse von der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Landesregierungen überarbeitet werden. „Sie muss künftig kleinräumlicher sein, damit auch benachteiligte Stadtteile und Gemeinden innerhalb von Großstädten und Kreisen ausreichend versorgt werden können“, so Kapteinat: „Und kurzfristig muss das Land alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Sonderzulassungen zu erwirken und so die psychotherapeutische Versorgung sicherzustellen.“