Können Eltern ihre verschiedenen Kinder genau gleich lieben? Diplom-Psychologin Elisabeth Raffauf hat Zweifel. Aber darauf kommt es gar nicht an.
In Sachen Liebe„Meine Tochter wirft mir vor, dass ich unseren Sohn mehr liebe als sie“
„Meine erwachsene Tochter hat mir vorgeworfen, dass ich unseren Sohn mehr liebe als sie. Ich hätte ihn immer in Schutz genommen und bevorzugt. Das trifft mich sehr.“ (Jasmin, 55)
Elisabeth Raffauf: Der Vorwurf Ihrer Tochter klingt hart für Sie. Das ist verständlich. Die meisten Eltern haben den Anspruch an sich, alle ihre Kinder gleich zu lieben. Sie behaupten auch von sich, das zu tun. Aber: Es stimmt eigentlich nie.
Zum einen gibt es für die Liebe keine objektive Maßeinheit. Zum anderen lieben Eltern nicht alle Kinder „gleich“. Sie lieben sie verschieden und haben zu ihnen ein unterschiedliches Verhältnis. Oft ist es so, dass Eltern mit mehreren Kindern spüren, sich mit einem mehr verbunden zu fühlen als mit den anderen. Er oder sie kuschelt mehr mit ihnen, ist nicht so „widerspenstig“, man kann besser miteinander reden oder teilt gemeinsame Interessen.
Versuchen Sie zu verstehen, was Ihre Tochter wirklich meint mit dem Vorwurf
Vielleicht sind Mütter auch eifersüchtig auf eine Tochter, weil sie so gut ankommt, jung und schön ist, jetzt „dran“ ist – und die Mütter merken, dass sie älter werden. Es kann auch sein, dass sie es nicht so gut aushalten können, wenn sich die Tochter gut mit ihrem Vater versteht. Vielleicht erinnert auch das eine Kind mehr an Eigenschaften, die ein Elternteil – der Partner beziehungsweise die Partnerin oder man selbst – hat, die man gar nicht mag. Eigenschaften, die etwas in einem triggern. Dann wehren wir das ab. Das passiert meist unbewusst. Wir stülpen dem Kind unsere negativen Gefühle über, die eigentlich einer anderen Person gelten. Und wir merken diese Übertragung gar nicht.
Wenn Sie sich etwas zurücklehnen und versuchen zu verstehen, was Ihre Tochter meint mit dem Vorwurf, dass Sie Ihren Sohn mehr lieben, dann könnte das Sie beide einander näherbringen. Können Sie zunächst mal ein offenes Ohr für sie haben, ohne den Vorwurf direkt abzuwehren oder sich zurückzuziehen? Vielleicht ergeben sich dann folgende Fragen: Was hat Ihre Tochter erlebt? Wie hat sie Ihr Verhalten empfunden?
Überlegen Sie auch: Was genau trifft Sie am Vorwurf Ihrer Tochter?
Ist es aus der Sicht Ihrer Tochter möglicherweise so, dass Sie, wenn die Kinder gestritten haben, sich eher auf die Seite Ihres Sohnes geschlagen haben; dass Sie ihn häufiger verteidigt und in Schutz genommen haben? Hat sie das Gefühl, dass Sie ihm mehr erlaubt haben als ihr, obwohl beide Kinder vielleicht ähnlich alt sind? Hat sie es womöglich so erlebt, dass Sie nicht so ärgerlich waren, wenn er etwas angestellt hatte?
Überlegen Sie auch: Was genau trifft Sie am Vorwurf Ihrer Tochter? Und was können Sie Ihrer Tochter ehrlich antworten? Können Sie sagen: Es stimmt, dass die Beziehung eine andere ist. Es stimmt, dass ich an manchen Stellen mehr mit deinem Bruder anfangen konnte. Es sind mir vielleicht manchmal eigene Verletzungen „reingerutscht“ in unsere Beziehung, für die du gar nichts konntest. Es tut mir leid, dass bei dir das Gefühl entstanden ist, dass ich deinen Bruder mehr mag als dich. Es ist aber so: Du bist meine liebste Tochter, und dein Bruder ist mein liebster Sohn. Ich liebe euch beide sehr. Auf ganz unterschiedliche Weise. Aber nicht den einen mehr und die andere weniger.
Wenn Sie zeigen, dass Sie bereit sind, Ihr eigenes Verhalten zu reflektieren und gleichzeitig auszusprechen, was Ihre Tochter möglicherweise als Ungerechtigkeit erlebt hat, signalisiert das Ihrer Tochter, dass Sie ihr Gefühl anerkennen und verstehen. Darüber hinaus zeigen Sie ihr, dass es nicht Ihre Absicht war und ist, sie zurückzusetzen. Sie können sich dafür entschuldigen, dass es so geschehen ist, und ihrer Tochter sagen, es lag nicht an ihr, dass Sie sich ihr gegenüber möglicherweise manchmal zurückweisender verhalten haben als ihrem Bruder gegenüber. So erhält sie die Nachricht, dass sie als Tochter richtig ist, so wie sie ist. Eine gute Nachricht.
Unser Team von Expertinnen und Experten beantwortet Ihre Fragen in der Zeitung. Die Psychotherapeuten Désirée Beumers, Carolina Gerstenberg und Daniel Wagner sowie die Diplom-Psychologinnen Elisabeth Raffauf und Katharina Grünewald sind versiert in der Beratung rund um Liebe, Beziehung und Partnerschaft. Der Urologe Volker Wittkamp kennt sich mit allem aus, was Liebe mit unserem Körper macht – und umgekehrt. Schreiben Sie uns, was Sie in der Liebe bewegt! Ihre Zuschriften werden anonymisiert weitergegeben. Schicken Sie Ihre Frage an: in-sachen-liebe@dumont.de.