Zu rustikal, zu wenig raffiniert – lange galt deutsche Küche als nicht fein genug. Eine neue Generation von Köchen besinnt sich immer öfter auf regionale Gerichte.
Back to SpeckWie junge Köche die regionale Küche wiederbeleben
Handkäs“ mit Musik, Finkenwerder Scholle oder Tafelspitz – regionale Gerichte haben in vielen Familien Tradition. Und doch ließ das gutbürgerliche Sonntagsessen die deutsche Spitzenküche lange Zeit weitgehend kalt – bis jetzt. Köche wie Sven Elverfeld aus dem Wolfsburger Drei-Sterne-Restaurant Aqua haben einen Imagewechsel angestoßen: Die vormals oft als zu rustikal und zu wenig raffiniert geltenden Spezialitäten bilden nun immer öfter die Basis für kreative Kulinarik.
Ein Paradebeispiel dafür ist Elverfelds wie ein Gemälde des niederländischen Malers Piet Mondrian arrangierter Tafelspitz: Lammfleisch, Frankfurter Grüne Soße, Salzkartoffeln und Ei bilden ein Tellergericht in Kacheloptik. In der Feinschmeckerszene gilt dieses Gericht als Meilenstein.
Schätze der Regionalküche
Anders als in Italien oder Frankreich spielte in Deutschland über Jahrzehnte die gutbürgerliche Küche in der Hochküche keine große Rolle. Man orientierte sich lieber an den Erfolgsrezepten der Franzosen und hatte nicht das Selbstbewusstsein, die eigene Esskultur einer Frischzellenkur zu unterziehen.
Dann kam Elverfeld und machte deutlich, dass es in der Regionalküche Schätze zu heben galt: „Ich wollte mich von meinen Lehrmeistern abnabeln und einen eigenen Stil entwickeln, aber hatte auch Spaß daran. Es ist wie bei einem Musiker, der die Noten eines klassischen Stücks im Kopf hat, es aber auf seine eigene Weise interpretiert“, sagt er.
Vor allem klassische Garnituren inspirieren den Koch. Die bekannte Scholle Finkenwerder Art etwa interpretiert er neu: mit festfleischiger Seezunge auf rotem Zwiebelpüree und brauner Butter, getoppt mit knusprigem Speck, Champignons, Röstbrot, Zwiebeln und Petersilie. „Ich nutze meist dasselbe Grundprodukt wie im Original, aber beziehe es in bestmöglicher Qualität. Dann überlege ich, mit welchen Kochtechniken ich die Produkte zubereite“, sagt er. Dazu gehört auch sein Handkäs“ mit Musik, der weitaus mehr als ein Stück Sauermilchkäse mit rohen Zwiebeln ist, sondern eine geeiste Kugel aus Handkäs“-Creme, die auf dem Teller wie eine Miniatur des Vollmonds anmutet.
Heute ist dieser Stil keine Regionalexotik mehr: Benjamin Gallein vom hannoverschen Votum tauscht etwa den Essig eines Sauerbratens durch Säure von Zitrusfrüchten aus und haucht damit dem klassischen Wintergericht eine leichtfüßige Sommerfrische ein. Robin Pietsch vom Zeitwerk in Wernigerode baut Gänge wie Senfei oder „Tote Oma“ in sein Menü ein. Letzteres ist ein DDR-Klassiker aus Sauerkraut, Kartoffeln und Blutwurst. „Meine Oma erzählt heute noch, dass das ein Arme-Leute-Essen war“, sagt Pietsch. In seiner Version nutzt er traditionelle Blutwurst, fördert aber ihre elegante Seite zutage, mit Kalbsjus, Kümmelkrokant, Majoran, Apfel, Krautsalat sowie Kartoffelstroh und -espuma.
Sehr weit von den Originalen entfernt sich Felix Schneider vom Nürnberger Etz. In seiner Version eines Szegediner Gulaschs rückt er die klassische Zutat Weißkohl ins Zentrum. Er serviert ein Stück des Gemüses mit Strunk, nur leicht gegart, frisch und knackig. Das Rindfleisch kommt lediglich als würzige Jus, das Schweinefleisch als gepuffte Schwarte auf den Teller. Selbst eine Schlachtschüssel unterzieht Schneider einem kreativen Prozess. Heraus kommt dabei ein „Saft von milchsaurem Blaukraut mit Pellkartoffel und gehobelter Leber vom Wollschwein“.
Überhaupt ist Schweinefleisch Hauptbestandteil vieler Regionalgerichte – und hatte deshalb in der gehobenen Küche lange keinen guten Stand. Die Vorbehalte baute erst Joachim Wissler Anfang des Jahrtausends ab. Er gilt als einer der innovativsten Köche des Landes. In seinem Restaurant Vendôme in Bergisch-Gladbach servierte Wissler damals ein glasiertes Schweinekinn mit Sauerkraut-Beurre Blanc und Imperial-Kaviar. Letzteren ersetzte er später durch Saiblingskaviar und ebnete damit rustikalen Waren den Weg in die Hochküche. „Unsere Esskultur hat in der Tiefe viel zu bieten, es kommt nur nicht zum Ausdruck“, ist Wissler überzeugt.
In fermentiertem Rotkohlsaft glaciertes Kalbshirn
Die Gründe dafür sind an vielen Stellen zu suchen, sowohl in der Spitzenküche als auch in Medien oder Gesellschaft: Der steigende Wohlstand in den vergangenen 50, 60 Jahren hat etwa dazu geführt, dass edle Fleischteile wie Rücken oder Filet auf dem Teller normal wurden. Spitzenköche und -köchinnen haben in diesem Sinne für den Gast gekocht, Medien eher den Steinbutt und nicht die Forelle in den Himmel geschrieben. Wenn heute Restaurantkritiker von Temperatur, Textur und Kontrast fachsimpeln, klingt das auch hochgestochen, weil jahrzehntelang versäumt wurde, darauf hinzuweisen, dass etwa ein Gericht wie Leberkäse mit Spiegelei, Bratkartoffeln, Gewürzgurke und Senf aus genau diesen Gründen gut schmeckt: Es ist zugleich cremig, knusprig und herzhaft, kalt und warm, scharf, säuerlich und fettig. Daran ist nichts hochgestochen, es ist Genusseinmaleins, das sich potenzieren lässt.
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Klassische Produkte, aber auch klassische Kombinationen und Zubereitungsarten der Regionalküche haben zudem einen Wiedererkennungswert, den auch Wissler bewusst nutzt, um seine Gäste abzuholen und sie für seine Art der Küche zu begeistern: „Die französische Hochküche fußt auf der Weiterentwicklung der qualitativ sehr hochwertigen bürgerlichen Küche. Dieses Potenzial hat unsere bürgerliche Küche grundsätzlich auch, aber die Gesellschaft müsste mitgehen“, sagt er. Eine seiner jüngsten Kompositionen beispielsweise ist in fermentiertem Rotkohlsaft glaciertes Kalbshirn. „Aber bei solchen Gerichten müssen sich die Gäste schon dem Koch an die Hand geben und ihm vertrauen, dass er weiß, was er da tut“, sagt er lachend.
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