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„Bis dahin ist die Patientin tot“

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Carina M. aus Troisdorf.

Carina M. aus Troisdorf.

Troisdorf - Keuchend kommt sie ans Telefon. Carina M. aus Troisdorf leidet an einer schweren chronischen Lungenkrankheit, im Fachjargon Bronchiektase genannt. Die für die Lungenfunktion maßgeblichen kleinen Bläschen in der Lungenwand sind abgestorben und in sich zusammengefallen. „Da arbeitet nichts mehr bei mir“, sagt die junge Frau, unterbrochen von Atemzügen, die wie schwere Seufzer klingen. „Der Schleim wird nicht mehr abgebaut.“

Rund um die Uhr muss sie Sauerstoff inhalieren. Damit ihre Atemwege nicht austrocknen, soll sie diesen Luftstrom mit sterilem Wasser anfeuchten, das in „Aqua Paks“ keimfrei verpackt ist.

Lebensgefahr wegen Bakterien möglich

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Ohne diese Feuchtigkeit würde sich noch mehr Schleim bilden. Und dann bekäme Carina M. noch schlechter Luft, erklärt Arne Simon, der Hygienebeauftragte des Zentrums für Kinderheilkunde an der Bonner Uniklinik. Der Arzt gehört der unabhängigen Expertenkommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert-Koch-Institut in Berlin an, die vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzt worden ist.

„Das Immunsystem der Patientin ist sehr stark geschwächt. Bakterien im Inhalationswasser können Lebensgefahr bedeuten“, sagt Simon. Absolute Vorsicht sei bei Carina umso notwendiger, da die Herkunft ihrer Krankheit völlig unklar sei, ergänzt Sabina Schmitt-Grohé, Oberärztin an der Bonner Allergieambulanz und Fachärztin für Atemwegserkrankungen. Sie hat der jungen Frau daher die „Aqua Paks“ verordnet. Kosten pro Monat: etwa 45 Euro.

Gegen steriles Wasser hat auch die AOK nichts. Aber zahlen will sie dafür nicht. Denn es reiche aus, Wasser aus der Leitung zu nehmen und es durch Abkochen zu sterilisieren. Und den Behälter für das Wasser könne die Patientin „von Zeit zu Zeit“ von Hand säubern oder in die Spülmaschine stecken.

Eine Kostenübernahme der „Aqua Paks“ sei jedenfalls nicht möglich, teilte die Kasse mit. Um Geld gehe es dabei nicht, wie AOK-Sprecherin Ellen von Itter betont. Die Kasse habe bereits Zehntausende Euro für die Behandlung der jungen Frau ausgegeben. Die Entscheidung, nicht zu zahlen, sei denn auch kein böser Wille, sondern dem geltenden Recht geschuldet.

Im Brief der AOK an die Patientin heißt es, „der bisherige wissenschaftliche einwandfreie Nachweis aufgrund genügend großer Studien, dass aus Hygienegründen im häuslichen Bereich geschlossene Sterilwassersysteme zur Anwendung kommen müssten, fehlt bisher“.

Paradoxon im Gesetzestext

Mit anderen Worten: Wenn die Patientin nicht zu Hause wäre, sondern dauerhaft im Krankenhaus läge, würden ihr die Kosten für die „Aqua Paks“ erstattet. Und die AOK wird noch deutlicher: „Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen.“ Solche Leistungen „dürfen die Krankenkassen nicht bewilligen“, teilt die AOK unter Berufung auf das Sozialgesetzbuch V. mit.

Auf „genügend große Studien“ warten? „Bis dahin ist die Patientin tot“, sagt der Arzt Arne Simon. Er kann die Haltung der AOK nicht nachvollziehen. Die Gutachter der AOK und des medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), der die ablehnende Haltung der Kasse bestätigt hat, urteilten nach Aktenlage, sagt er. „Das lässt sich mit unserer Auffassung von Medizin nicht vereinbaren.“ Sogar von einer „Willkür der Gutachter“, der man ausgeliefert sei, spricht der Mediziner. In einem solch schwerwiegenden Fall müsse das Vorsorgeprinzip greifen.

Doch wer bestimmt, was Carinas Kasse zahlen muss? Die Antwort ist scheinbar einfach: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) mit Sitz in Siegburg legt fest, was Kassenpatienten erstattet bekommen und was nicht. Dabei gibt es einen entscheidenden Unterschied: Im Krankenhaus wird im Prinzip alles gezahlt, es sei denn, der G-BA nimmt bestimmte Leistungen ausdrücklich aus. Bei ambulanten Patienten sieht der Fall genau andersherum aus: Hier müssen die Kassen nur erstatten, was der G-BA ausdrücklich erlaubt. So erklärt es G-BA-Sprecher Kai Fortelka.

Und die „Aqua Paks“? Die fallen nicht unter die Heilmittel, sondern unter die Hilfsmittel. Und dafür ist der G-BA nicht zuständig. Welche Hilfsmittel erstattet werden, entscheiden die Spitzenverbände der Krankenkassen.

Die „Aqua Paks“ stehen nicht auf ihrer Liste. Denn die Kassen haben in einer gemeinsamen Stellungnahme festgelegt: „Die Anwendung von speziellen geschlossenen Sterilwasserpacks ist im häuslichen Bereich nicht notwendig, wenn frisch abgekochtes Leitungswasser verwendet werden kann.“

Kann? Kann eben nicht, sagen die behandelnden Ärzte. „Wir müssen hier allerhöchste Hygiene walten lassen“, beharrt Sabina Schmitt-Grohé auf der medizinischen Notwendigkeit ihrer Verordnung für Carinas Gesundheit.

Grundgesetz kontra Sozialgesetzbuch V

Die AOK bleibt dennoch dabei: Wenn sie hier „kulant“ wäre und die Kosten übernähme, dann beginge sie einen Rechtsbruch. Schließlich werde das Unternehmen vom Landesversicherungsamt kontrolliert. Und das könne empfindliche Strafen gegen Kassen verhängen, die etwas erstatten, das in keiner genehmigten Liste auftaucht.

Stimmt das? Ein verantwortlicher Mitarbeiter dieses Landesversicherungsamtes, ein Mann mit Galgenhumor, der aber lieber ungenannt bleiben möchte, sagt: Wenn sich die Rechtsprechung in den letzten fünf Minuten nicht geändert habe - denn das könne man nie wissen - dann habe das Hilfsmittelverzeichnis tatsächlich normative Geltung. Bei extrem schweren Fällen sei aber auch eine Versorgung außerhalb dieses Katalogs möglich.

Das sieht das Bundesverfassungsgericht ähnlich. Im „Nikolausbeschluss“ vom 6. Dezember 2005 heißt es: „Wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf“ bestehe, dürfe ein gesetzlich Versicherter nicht von den ärztlich angewandten Behandlungsmethoden ausgeschlossen werden.

Das Bundesverfassungsgericht rief mit dem „Nikolausbeschluss“ auch das Grundgesetz in Erinnerung. In Artikel 2, Absatz 2, heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Hilft dieser „Nikolausbeschluss“ Carina M. dabei, die AOK für den Schutz vor lebensbedrohlichen Infektionen in die Pflicht zu nehmen, wie die Bonner Ärzte es fordern? Darüber wird jetzt das Sozialgericht in Köln zu befinden haben, bei dem Carina M. eine Klage gegen die AOK eingereicht hat.

Ganz gleich, was die Richter beschließen, die leidvolle Krankengeschichte der Carina M. wird damit nicht zu Ende gehen. „Mein einziger Weg zu einem besseren Leben ist eine Transplantation beider Lungenflügel“, sagt die junge Frau. Das Warten auf ein Spenderorgan hat begonnen.

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