„Es gibt mehr als zwei Geschlechter”

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Prof. Regina Ammicht Quinn

Prof. Regina Ammicht Quinn

KÖLNER STADT-ANZEIGER: Frau Ammicht Quinn, Sie wollen nicht mehr von „Homosexualität“ reden, sondern von „Homosexualitäten“. Was soll das?

REGINA AMMICHT QUINN: Solange wir von „Homosexualität“ als einer geschlossenen Kategorie reden, unterstellen wir, es gebe da eine bestimmte eigenartige Minderheit, zu der die „normale“ Mehrheit einigermaßen sein solle. Es geht aber nicht darum, die Bewertungen von „Homosexualität“ zu ändern - etwa von „ganz schlimm“ zu „nicht ganz so schlimm“, sondern die gesamte Klassifizierung in Frage zu stellen, vor allem weil eine „biologische“ Klassifizierung zugleich eine moralische Deklassierung sein kann. Dabei hilft es, dass wir außerhalb der westlichen Kultur auf andere Klassifizierungen stoßen - beispielsweise auf mehr als zwei Geschlechter.

Was heißt das?

AMMICHT QUINN: In Samoa wie häufig im pazifischen Raum gibt es ein „drittes Geschlecht“. Fa'afafine sind Menschen mit männlichen Genitalien, die aber in ihrer sozialen Rolle weiblich sind. Sie tragen weibliche oder männliche Kleidung, heiraten und zeugen Kinder oder leben mit einem männlichen Partner. Und Letzteres wird nicht als „homosexuell“ empfunden, weil diese Fa'afafine eben keine „Männer“ sind. Unser westliches Konstrukt „männlich / weiblich“ greift zu kurz, ebenso das Konstrukt zweier Identitäten hetero- oder homosexuell.

Wir sind aber nicht im Pazifik.

AMMICHT QUINN: Für die klassische Psychoanalyse - Sigmund Freud, später auch die Studien von Al fred Kinsey - ist es seit langem klar, dass sich nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Men schen als ausschließlich hetero- bzw. homosexuell empfindet, son dern dass die Kategorien viel flie ßender sind. Menschen begehren andere Menschen. Werden Identitä ten in einem dualistischen „Entwe der (homosexuell) - Oder (heterose xuell)“ konstruiert, wird dieses Be gehren zum „guten“ oder „schlech ten“ Begehren. Fließende Kategorien aber widerstreben natürlich ei ner verbreiteten Sehnsucht nach Ordnung.

Ist der Verlust von Ordnung denn ein Gewinn?

AMMICHT QUINN: „Die Ordnung“ gibt es nicht. Ordnungen sind immer kulturelle Ordnungsversuche. Unter der Oberfläche der herrschenden Geschlechterordnung lauern Unterdrückung, Angst und Leid.

Ist die katholische Kirche mit ihrer Geschlechterordnung demnach eine Unterdrückungsinstanz?

AMMICHT QUINN: Wenn Sie die offiziell-römische Spielart meinen, ja. Aber wie in der Geschlechtlichkeit gibt es auch in der Kirche eine große Pluralität, obwohl das nach außen gezeigte Bild wenig plural ist. In der Sexualmoral steht es über weite Strecken im Widerspruch zur westlichen Kultur. Wobei Widerspruch an sich nichts Schlechtes ist - wir brauchen eine Kirche im Widerspruch zu Krieg, Armut und Rassismus. Aber der Widerspruch gegen die allmähliche Akzeptanz von Schwulen und Lesben liegt auf einer anderen Ebene.

Die Kirche hat nach eigener Aussage gar nichts gegen Schwule oder Lesben, sondern nur gegen deren geschlechtliche Praxis.

AMMICHT QUINN: Der kirchliche Konflikt um homosexuelle Praxis spielt auf drei Ebenen von Vorwürfen: erstens verweigerte Fruchtbarkeit. Zweitens exzessive und folgenlose Lust, die offen verurteilend und zugleich heimlich begehrlich betrachtet wird. Und drittens die Störung der vermeintlich „natürlichen“ Geschlechterordnung.

Fehlt noch die strikte Verurteilung der Homosexualität durch die Bibel.

AMMICHT QUINN: Das wird gern gesagt, ist aber schon deshalb falsch, weil der Begriff der „Homosexualität“ erst im 19. Jahrhundert entstanden ist. Die Bibel kennt kein Verständnis von Homosexualität, das die Identität eines Menschen bestimmt. Die „sodomitische Sünde“ ist ein allgemeines Laster, keine Identitätsbeschreibung. Aus antiken Texten unmittelbar moralische Normen für die Gegenwart abzuleiten, ist höchst problematisch.

Was tut die Kirche denn anderes?

AMMICHT QUINN: (seufzt) Wenn die Kirche auf der Höhe ihrer eigenen Botschaft argumentiert, dann überträgt sie natürlich nicht einfach antike Maßstäbe in die heutige Zeit. Dann fragt sie eher: Worum ging es den biblischen Schriften?

Und zwar?

AMMICHT QUINN: Der Bibel ging es um die Förderung des Bewusstseins, dass wir alle Kinder des einen Gottes sind. Und darum sollen wir gerecht und respektvoll miteinander umgehen. Daran entscheidet sich, was gut und was böse ist. Nun sagt der Katechismus der katholischen Kirche etwa, Homosexuelle dürften „nicht ungerecht diskriminiert“ werden. Das ist schon an sich eine merkwürdige Formulierung, weil sie impliziert, dass es auch eine „gerechte Diskriminierung“ gibt . . .

... aber immerhin sagt die Kirche: Diskriminierung soll nicht sein.

AMMICHT QUINN: Das ist ja richtig und gut. Zugleich aber diskriminiert sie weiter und gibt dafür moralische Gründe an. Ich selbst gehe davon aus, dass „Homosexualität“ kein primäres moralisches Problem ist.

Warum nicht?

AMMICHT QUINN: Weil ich einen Menschen nicht danach beurteilen kann, welche Geschlechtsorgane sein Sexualpartner besitzt. Theologie und Kirche sind nicht im Besitz eines höheren Wissens über die „Natur“ des Menschen; wie in jeder kulturellen Praxis wird hier ein möglichst angemessener Begriff von „Natur“ konstruiert. So war die Fruchtbarkeit lange Zeit ein wichtiger Faktor zur moralischen Beurteilung von Sexualität: Sexualität ist legitim, wenn sie fruchtbar ist. Eine solche Kategorie sollte man auch heute nicht mal eben entsorgen. Vielmehr lässt sie sich jenseits des Biologischen auch symbolisch bestimmen: Sexualität ist fruchtbar, wenn die Energie einer Liebesbeziehung fruchtbar wird für die Welt. Gleichgeschlechtliche Sexualität kann fruchtbar sein und muss nicht vorn vornherein in die Sündenschublade gesteckt werden - im Gegenteil.

Regina Ammicht Quinn , geb. 1957, ist Professorin für Ethik an der Uni Tübingen. Die katholische Theologin hat 1999 eine bahnbrechende Arbeit zur Ethik der Geschlechter vorgelegt. Für eine Berufung auf einen moraltheologischen Lehrstuhl wurde ihr mehrfach die kirchliche Erlaubnis (Nihil obstat) verweigert.

Ihre Thesen diskutiert Regina Ammicht Quinn am Mittwoch um 19 Uhr in der Karl-Rahner-Akademie, Jabachstraße 4-8, Köln.

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