„Man hatte es für unmöglich gehalten“

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Der von einem Polizisten getroffene Benno Ohnesorg stirbt wenig später im Krankenhaus.

Der von einem Polizisten getroffene Benno Ohnesorg stirbt wenig später im Krankenhaus.

Vor 40 Jahren wurde der Student Benno Ohnesorg bei der Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen. Ein Zeitzeuge, der Ohnesorg und seine Frau begleitete, erinnert sich. Das Datum markiert den Beginn der so genannten 68er Zeit.

Am Abend vor dem 2. Juni war ich bei Benno und Christa Ohnesorg zum Essen eingeladen. Ich hatte die beiden von einem sehr guten Freund als Freunde gerade „geerbt“. Sie hatten wenige Wochen zuvor geheiratet. Christa erwartete seit drei Monaten ein Kind. Benno, Mitglied der evangelischen Studentengemeinde, war an diesem Abend so, wie er eigentlich von allen beschrieben worden ist: feinsinnig, sanft, eher zurückhaltend, nachdenklich und doch entschieden im Urteil - auch gegenüber den Terrormethoden des persischen Schahs, der anderntags in Berlin empfangen werden sollte.

Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen: Es sollte eine Demonstration vor dem Schöneberger Rathaus stattfinden anlässlich der Schah-Begrüßung. Da sah man nun etwas, das man für unmöglich gehalten hatte: Die in weitem Kreis vom Eingang des Rathauses weggesperrten Demonstranten riefen Schmäh-Parolen gegen den eintreffenden Gewaltherrscher. Plötzlich stürmte eine größere Zahl persischer Leibwächter in Zivil zu den Demonstranten. Lebensbedrohlich prügelten sie weit ausholend mit mannslangen Vierkanthölzern auf die Menschen ein. Die Polizei schaute tatenlos zu.

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So entsetzt und aufgebracht, beendete man die Demonstration nicht, nachdem der Schah im Rathaus verschwunden war. Ich sah plötzlich eine kleinere Schar Menschen, die sich auf die Straßenbahnschienen setzte, Benno dabei - in leicht linkischer Manier, die signalisierte, dass da einer zum ersten Male mitmachte. Die Zeit bis zur traurig berühmt gewordenen Nachmittagsdemonstration vor der Deutschen Oper verbrachte ich mit der Lektüre von Bahman Nirumands rororo-Band über die Unterdrückungsmethoden des Schahs; so begann mir zu dämmern, um was es ging.

Als ich am Ort des Geschehens eintraf, war die berühmte „Leberwurst-Absperrung“ längst perfekt: Von der überbreiten, sechsspurigen Bismarckstraße war nur noch ein langer Schlauch von gerade zwei Metern Dicke begehbar. In ihm standen die Demonstranten dicht gedrängt auf der anderen Seite der Oper, unmittelbar vor ihnen eine Doppelreihe Polizisten postiert. Ich stand mit Christa Ohnesorg gerade gegenüber dem Operneingang. Es war genau die Stelle, von der der Polizeipräsident später sagte: „Da haben wir hineingestochen und die Protestierenden dann nach den beiden Seiten herausgedrückt.“

Eine bemerkenswerte Episode rettete uns vor diesem gefährlichen, weil in scharfer Attacke auf engstem Raum stattfindenden Angriff: Als immer bedrohlichere Enge eintrat, fragte ich den vor uns stehenden Polizisten: „Könnten Sie mir und dieser Frau - sie ist schwanger - wohl über die Absperrung helfen?“ In vollkommener Ruhe und Höflichkeit kam er dem Wunsch sofort nach, und wir beide konnten dann über die weithin leere, nur von Polizisten besetzte Bismarckallee bis ans Ende der Absperrungen gehen, wo dann wenige Minuten später, nach jenem „Stich“ in die Mitte, die Studenten am „Wurstende“ herausgequetscht wurden.

Ordnungshüter ganz anderen Kalibers

Christa Ohnesorg und ich erfuhren aber schnell auf peinvolle Weise, dass auch Ordnungshüter ganz anderen Kalibers am Platze waren als unser freundlicher Retter. Wasserwerfer nahmen die Studenten unter Beschuss, die sich am Absperrungsende versammelt hatten. Hand in Hand musste ich mit der Schwangeren im Laufschritt über die Geröllmassen unbebauter Grundstücke fliehen - bis in jene Krumme Straße, in der das Unfassliche dann passierte. Benno kam auf uns zugelaufen, sagte kurz, dass „da vorne“ etwas los sei, eilte dorthin und verlor sich in der Menge. Wir warteten, warteten lange - ehe wir aufgaben.

Es war schon Nacht, als wir am Haus von Christa und Benno eintrafen. Seltsame Gestalten erwarteten uns: Reporter der Springer-Presse. Auf roheste Manier fingen sie Christa ab, konfrontierten die Ahnungslose mit dem entsetzlichen Geschehen und verlangten sofort Äußerungen zur, wie man schon gehört habe, gerade erst geschlossenen Ehe. Wir drängten sie ab, kamen in der Wohnung an und verbrachten schlaflos die ganze Nacht am Bett der zusammengebrochenen Christa.

Es fiel mir zu, die Verwandten in Westdeutschland in mehreren Telefongesprächen zu informieren. Die Reaktion dort nicht anders als bei uns: vollkommene Desorientierung, Fassungslosigkeit und Lähmung. In solcher Situation ist man nicht fähig, sich Einzelheiten zu merken. Nur eins hat sich dem Gedächtnis eingeprägt: Gegen ein Uhr nachts schellte es. Zögerlich öffneten wir. Herein trat ein tipptopp gekleideter Herr, der sich als Rechtsanwalt des SDS vorstellte: Horst Mahler, später als struppiger Linksradikaler und als abermals gedrehter Rechtsradikaler mehrfach vor Gericht. Mit gedämpfter Stimme beleuchtete er das Geschehen unter juristischen Gesichtspunkten und forderte uns auf, das Verhalten der Springer-Meute dem „Deutschen Presserat“ zu melden.

Wäre er noch am folgenden Morgen um zehn Uhr in der Wohnung gewesen, hätte er bei weitem Verklagenswürdigeres erlebt. Abermals klingelte es. Bildzeitungsreporter standen schon vor der Tür. Sie verlangten sofort ein Hochzeitsfoto und weitere Informationen. Als wir das ablehnten und sie fortschicken wollten, stellten sie einen Fuß in die Tür und sagten: „Wenn Sie uns das jetzt nicht geben, dann werden wir eben nur das schreiben, was die Polizei sagt.“

So stellen sich die Ereignisse dar aus der besonderen Perspektive eines Zeitzeugen, der im Fokus gestanden hat. Aufs breite Panorama und die Folgen der gesamten Ereignisse blickend, sah er dann dies: Zur Beerdigung Ohnesorgs in Hannover ließ die DDR einen mehrere Kilometer langen Autokonvoi unkontrolliert durch ihr „Staatsgebiet“ rollen - für die Rechten ein weiterer Beweis, aus welcher Richtung bei den Studenten der Wind wehe.

Auf dem Hannoverschen Kongress schleuderte der unbestechliche Habermas den immer radikaler auftretenden Studentenführern sein Urteil entgegen: „linker Faschismus“ drohe. Überall entstanden „Republikanische Klubs“, Politisierung bis in die Schulen hinein, flächendeckender Aufstand, als Rudi Dutschke 1968 von einem fanatisierten Bildzeitungsleser niedergeschossen wurde, Denunzierung sämtlicher öffentlicher Institutionen als „Establishment“, aller Autoritäten als Unterdrückungsinstitutionen, daher Revisionsversuch des gesamten Bildungswesens; dessen bisherige klassisch-idealistische Ausrichtung habe den Nationalsozialismus ja nicht verhindert, vielmehr die Revitalisierung einer kleinen bourgeoisen Schicht gestützt und die Restauration im Nachkriegsdeutschland ermöglicht.

Protestpotential war groß

Es gab in der Tat genügend plausible Gründe, die eine durchgreifende Umstrukturierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft forderten: das unbeherrschte Zuschlagen der Polizei, der hetzerische Ton der rechten Presse, die vorbehaltlose Stützung der Amerikaner, die in Vietnam mit inhumansten Mitteln Krieg führten, der antiegalitär-autoritäre Habitus im ganzen Gesellschaftsaufbau, das Schweigen über den Nationalsozialismus, die gesamte Fehlentwicklung insbesondere der jungen Menschen in Richtung apolitischer Innerlichkeit.

Vor radikalen Bausch- und Bogen-Urteilen schützte den Berichterstatter nicht zuletzt seine Erinnerung an jenen freundlich-korrekten Polizisten, der keineswegs nur aufs Niederknüppeln im Auftrag des Kapitalismus aus war. Durch die Berliner Ereignisse angestoßen, kämpfte auch der inzwischen an der Universität Köln Lehrende für eine Öffnung der Gymnasien, wandte sich allerdings gegen deren Zerstörung. Er meinte: Endlich sollten auch die Arbeiterkinder eine in die Tiefe gehende Bildung erhalten und nicht nur entwertete Zertifikate.

Dass sich Hitler, Goebbels, Heydrich und Konsorten in taumelndem Gefühl Beethovens Neunte vorspielen ließen, war für ihn kein Argument gegen dies klassische „Erbe der Menschheit“. Es spricht jener unerhörte Missbrauch allein gegen die typisch deutsche Erziehung zur apolitischen Innerlichkeit und zu einer Kultur der „ästhetischen Unverbindlichkeit“ (Max Frisch). Ausschließlich dieser war es zuzuschreiben, dass die Nationalsozialisten auf die Imperative: „Alle Menschen werden Brüder“ und „diesen Kuss der ganzen Welt“ mit der Ausrottung ganzer Völker antworten konnten. Gesellschaftlich siegte zunächst der antiautoritäre Impuls, der erhebliche Emanzipationsgewinne brachte, aber eben auch Missachtung unserer kulturellen Grundlagen.

Als die Folgen des schulischen und universitären Laissez-faire bedrohlich wurden, zog man in letzter Zeit die Zügel wieder an und lenkte das Ganze in eine vielleicht noch bedrohlichere Richtung: bildungsfeindliche Herrichtung eines jeden zum nützlichen, gut geölten Rädchen für die globalisierten Produktions- und Dienstleistungsbetriebe - erschreckender Endpunkt einer Entwicklung, die 1967 mit durchaus ernst zu nehmenden Impulsen in Richtung Freiheit und Autonomie des Individuums begann.

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