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Kritik an BestsellerWarum unsere Kinder Tyrannen werden

Lesezeit 7 Minuten
Klein und gemein? (BILD: JUPITER)

Klein und gemein? (BILD: JUPITER)

Sie sind unhöflich und respektlos. Sie hören nicht zu und schon gar nicht auf das, was man ihnen sagt. Sie wollen ständig Aufmerksamkeit und werden aggressiv, wenn sie ihren Willen nicht sofort bekommen. Sie kommen in der Schule weder mit dem Unterricht noch mit den anderen Kindern zurecht, treiben ihre Lehrer zur Verzweiflung. Einen Ausbildungsplatz werden sie niemals finden. „Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden, oder: Die Abschaffung der Kindheit“ heißt das Buch des Bonner Kinderpsychiaters Michael Winterhoff, in dem er eine regelrechte Horrorvision von diesen Kindern und ihrer düsteren Zukunft zeichnet in einer Gesellschaft, die ihre Kinder, diese kleinen Despoten, zu hassen gelernt hat.

Drastische Fallbeispiele

Mit dem alarmierenden Werk hat Winterhoff offenbar einen Nerv getroffen. „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ hält sich seit Wochen auf den Bestsellerlisten für Sachbücher ganz weit oben. Neben drastischen Fallbeispielen von aus der Rolle fallenden Vorschul-Feudalherrschern bietet Winterhoff vor allem eine etwas angestaubte Gesellschaftskritik. Die verpackt er allerdings in gewagten Thesen.

Die lauten: Die Ideologie von „Kindern als Partner“ führe dazu, dass sich Eltern und Kinder irgendwann gegenseitig hassen. Die Eltern behandelten selbst Kleinkinder schon als gleichberechtigte Partner, zudem versuchten sie, eigene Bedürfnisse - geliebt und anerkannt zu werden - durch das Kind zu kompensieren. Die Eltern versuchen, dem Kind alles recht zu machen. „Die Kinder machen die Erfahrung: Erwachsene kann man steuern wie einen Gegenstand. Für den psychischen Reifeprozess ist die Erkenntnis, dass ich Menschen nicht steuern kann, sondern sie im Gegenteil mich steuern können, aber ganz wichtig. Wenn das Kind diese Erfahrung nicht macht, bleibt es in der Phase des frühkindlichen Narzissmus stehen, die normalerweise mit 16 Lebensmonaten beendet ist. Es denkt: Ich kann alles und jeden steuern - und hat bis ins Jugendalter diesen Reifegrad eines Kleinkinds, ist weder beziehungs- noch arbeitsfähig“, erklärt Winterhoff. Die Gründe für dieseEntwicklung sieht der Bonner Kinderpsychiater in „gesellschaftlichen Fehlentwicklungen“: Weil auch die Erwachsenen keine klaren Rollenbilder mehr hätten, versuchten sie, diese „Sinnfragen“ durch das Kind zu kompensieren. Für die Kinder sei das aber nicht gut - sie bräuchten vielmehr die Erwachsenen als stabile, strukturgebende Autoritäten. Ohne Hierarchie keine Entwicklung.

Wie man eine solche Hierarchie aber als Erwachsener etabliert, lässt Winterhoff offen. Aber das ist nur einer der Punkte, die Wolfgang Bergmann, Erziehungswissenschaftler und Kinderpsychologe aus Hannover, an Winterhoffs Bestseller kritisiert: „Das Buch ist wie eine Super-Nanny-Show - da werden auf schäbige Weise Familienkatastrophen vorgeführt, und der Leser darf sich daran ergötzen, dass andere noch monströsere Kinder haben als er selbst“, sagt Bergmann, selbst Autor mehrerer Bücher.

„Schlicht dämlich“

Bergmann beobachtet in seiner Praxis ähnliche Fälle, wie Winterhoff sie beschreibt: Kinder etwa, die bei Gesprächen ständig dazwischenreden, ohne überhaupt zu merken, dass sie gerade jemanden unterbrechen. Allerdings: Sowohl Winterhoff als auch Bergmann sind Therapeuten - die Eltern kommen mit ihren Kindern gerade wegen dieser Probleme zu ihnen. Bergmann sieht die Ursachen für ein solches Kinderverhalten vor allem im Umgang der Eltern mit ihnen - und eher die Kinder als die Leidtragenden: „Diese Kinder finden keine Ordnung in der Welt und deshalb auch nicht in sich selbst, weil sie niemanden haben, in dem sie sich spiegeln können. Denn ein Kind lernt sich selbst nur durch den Umgang mit seinen Eltern kennen.“

Winterhoffs Andeutungen, wie dem Kind die Ordnung der Welt vermittelt werden sollte, hält Bergmann allerdings für vollkommen überholt: „Die Psyche mit einem Muskel zu vergleichen, der trainiert werden muss, ist schlicht dämlich. Das wird ihrer unendlichen Plastizität überhaupt nicht gerecht.“ Winterhoffs Beispiel, grundlegende Verhaltensweisen müssten wie Vokabeln durch ständiges Wiederholen eingeübt werden, „entspricht dem Stand der Lernpsychologie aus den 30er Jahren. Das ist operantes Konditionieren. So lernt ein Kind höchstens, dass es nicht zuhören muss, weil Mama ja sowieso immer das Gleiche sagt.“ Dabei wollten Kinder eigentlich gehorchen - denn Eltern seien für sie immer die zentralen Figuren. Voraussetzung dafür, dass ein Kind eben diese Ordnung in der Welt finde, sei eine starke Bindung an stabile, verlässliche Erwachsene.

Das Problem: Die Erwachsenen wissen tatsächlich oft selbst nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht. Was richtig und was falsch ist, steht in modernen Gesellschaften eben nicht mehr für alle Zeiten und vor allem: für alle, fest, sondern muss von jedem für sich selbst und immer wieder neu festgelegt werden. Dazu kommt der technische Fortschritt, in dessen Folge immer mehr Informationen über immer mehr Kanäle auf jeden einzelnen einströmen. Das aus diesen Entwicklungen auch Erziehungskrisen erwachsen - diese Erkenntnis ist aber nicht neu.

Auch vielen Eltern ist bewusst, dass Erziehen nichts mehr ist, was man unbedingt automatisch kann. Trainingsprogramme für Eltern zum Beispiel werden immer häufiger nachgefragt, sagt Reinhilde Biefang, Koordinatorin für Familienbildung im Jugendamt Köln: „Die Zahl der Angebote wächst. Das liegt daran, dass das Thema Erziehungskompetenz mittlerweile verstärkt diskutiert wird, auch in den Medien.“ Für viele Eltern sei es problematisch, ihren Kinder gegenüber klar die Elternrolle einzunehmen.

Warum aber der Umgang mit Kindern nicht mehr selbstverständlich ist, dafür gibt es viele Erklärungsansätze. Was bei Winterhoff zur konservativen Kulturkritik gerät - früher wurde intuitiv erzogen, weil Menschen automatisch wussten, welchen Sinn ihr Dasein hat, Kinder gingen früh ins Bett und durften nicht alles im Fernsehen sehen -, formulieren andere differenzierter. „Die Differenz zwischen Eltern und Kindern als Basis für die traditionelle Erziehung seit Anfang der Neuzeit ist weitgehend verschwunden durch den Verlust der Kindheit auf der einen und die Infantilisierung der Erwachsenen auf der anderen Seite. Daraus resultiert auch das Phänomen der Erziehungsunsicherheit“, sagt etwa Wilhelm Rotthaus, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.

Unsicherheit der Eltern

Rotthaus, Autor des Buchs „Wozu erziehen?“, erkennt an, dass Erziehen für Eltern immer mehr zur Gratwanderung wird und in vielen Fällen schiefgeht - zu Lasten der Kinder: „Dass psychische Auffälligkeiten bei Kindern zunehmen, lässt sich nicht bestreiten. Das hat sicher mit der Elternunsicherheit zu tun und damit, dass Kinder häufig nicht mehr erzogen, sondern sehr verwöhnt werden - und dass sie vor allem nicht mehr zur Übernahme von Verantwortung angeregt werden.“

Zudem verunsichert die Diskussion um frühkindliche Bildung die Eltern und überfordert die Kinder. „Während Elternschaft früher etwas Natürliches war, ist ein Kind heute ein hochinvestives Projekt. Die Unsicherheit der Eltern resultiert vor allem aus ihren vermehrten Ansprüchen an eine gelingende Kindheit im Hier und Jetzt und auf eine erfolgreiche Platzierung in der Gesellschaft der Zukunft“, sagt Professor Andreas Lange, Grundsatzreferent für Familienwissenschaften am Deutschen Jugendinstitut. Ob deshalb aber mehr Kinder unter psychischen Problemen leiden, bezweifelt Lang: „Dass es mehr schwierige Kinder gibt, stimmt nicht. Darüber gibt es einfach keine verlässlichen Daten.“

In einem Punkt stimmen Bergmann und Rotthaus allerdings mit Winterhoff überein: Kinder sollten nicht zu gleichberechtigten Partnern ihrer Eltern gemacht werden. Ernst nehmen sollte man sie zwar, aber um ihre Welt zu ordnen, brauchen sie jemanden, an dem sie sich orientieren können. Eine Autorität, wenn man so will.

Was das jedoch in der Konsequenz für den Umgang mit Kindern bedeutet, lässt Winterhoff offen - oder vielmehr: Er überlässt es den von ihm so gescholtenen Eltern. Er wolle, betont der Psychiater, lediglich Bewusstsein schaffen für das Phänomen. Weil seine Tyrannen nicht das Ergebnis schlechter Erziehung seien, sondern das einer stehen- gebliebenen Entwicklung, sei ihnen mit pädagogischen Konzepten ohnehin nicht beizukommen.

Und was fangen Eltern nun damit an? Sie sollten, meint Bergmann, vor allem versuchen, sich dem Druck zu entziehen, perfekt sein zu wollen - und sich mehr darauf verlassen, dass ihre Kinder sie auch dann lieben, wenn sie einmal Nein sagen: „Sie sind die Einzigen für Ihr Kind.“

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