Dreigestirn in MuchInklusion ganz närrisch

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Much – Prinz Guido I. wirft die Arme in die Höhe, voller Inbrunst schmettert er Klassiker der kölschen Karnevalsmusik. Einzug in die Scheune, Aufmarsch beim Prinzenempfang. Dort, in einem kleinen Ort der Gemeinde Neunkirchen-Seelscheid (Rhein-Sieg-Kreis), geben sich an diesem Abend gleich zwölf Prinzenpaare und Dreigestirne aus der Region die Ehre und auch die Klinke in Hand. Gebützt wird dort mit Leidenschaft, gern dekoriert der 45 Jahre alte Guido Osten die Gastgeber vom örtlichen Karnevalskomitee und natürlich dessen Prinzen Stefan I. (26) mit dem eigenen Orden. Hergestellt worden ist der in einer Metallwerkstatt für Menschen mit Behinderung.

Denn das Dreigestirn mit Prinz Guido, Jungfrau Sina (36) und Bauer Helmut (57) hat ebenfalls Handicaps, körperliche und geistige. Guido Osten und Helmut Dressler haben das Down-Syndrom, Sina Ringel hat eine geistige Behinderung, deren Ursache bis heute nicht erforscht ist. Die drei Arbeitskollegen leben auf dem Eichhof in der Nachbargemeinde Much, in einem anthroposophisch geführten Dorf mit derzeit 144 Bewohnern. Zum ersten Mal hat der Eichhof seine eigenen Tollitäten proklamiert. Und die Inklusion ist im Karneval angekommen.

"Mer jonn nit en dä Keller, öm zu lache, mer stonn op dä Böhne, öm Spass zo mache", ruft Regent Guido den in Pohlhausen versammelten Narren zu. "Mer sin vum Eichhof dat eeschte Dreijesteen un welle üch saare: Mer han üch jään!" Prompt belohnt eine Rakete den famosen Auftritt. Herzlicher werden Gäste im Karneval wohl selten verabschiedet. "Sie sind eben etwas Besonderes", betont der oberste Gastgeber, Prinz Stefan I. Im bürgerlichen Leben heißt er Tallack mit Nachnamen und arbeitet in Köln als Elektrotechniker. "Ich freue mich sehr über den Besuch vom Eichhof", sagt er und will von Unterschieden nichts wissen. Nicht umsonst heiße es doch, jeder Jeck sei anders.

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Etwa drei Stunden zuvor, als sich auf dem Eichhof die Karawane mit Reisebus und Privatfahrzeugen endlich in Bewegung setzen soll, herrscht plötzlich Stress: Klebeband muss her, etwas ist zu flicken. Für solche Fälle ist Philipp Heider (26) der richtige Mann: Natürlich hat auch dieses Dreigestirn einen Prinzenführer. Und der rennt sofort los, um das Gewünschte zu besorgen. Ebenso hat des Prinzen Gewand seine Tücken: Das festliche Ornat wird im Rücken geknöpft, Annegret Osten legt gern Hand an und hilft ihrem Sohn behutsam in die Robe. Guido I. ist geduldig, von Aufregung fehlt ohnehin jede Spur.

Spät am Nachmittag ist es, und im "Haus der Begegnung" bereiten sich eben Prinz, Bauer und Jungfrau auf jenen Auftritt in Pohlhausen vor. "Karneval macht Spaß", sagt Guido Osten, der seit der Kindheit schon die fünfte Jahreszeit liebt und mehrmals bereits im Rosenmontagszug mitgelaufen ist. Natürlich ist er in seiner Heimatstadt Hürth Mitglied der Großen Karnevalsgesellschaft Grüngold Efferen. "Aber mit dem Prinzenamt geht für ihn ein unendlich großer Traum in Erfüllung", verrät seine Mutter Annegret (67). Und Vater Ludwig (71) ergänzt: "Wir sind mächtig stolz."

Nicht nur Prinzenführer Philipp steht dem Trifolium indes bei seinen närrischen Touren zur Seite, vor allem aber wacht Wilfriede Tietz-Polinowski über das Dreigestirn: Die 60-Jährige aus Nümbrecht arbeitet als heilpädagogisch ausgebildete Betreuerin auf dem Eichhof, im Kölner Karneval ist sie bei den Florakindern schon einige Jahrzehnte aktiv. Ihre Idee war es, erstmals einen jecken Regenten zu küren. Die Leitung der Einrichtung habe übrigens sofort zugestimmt und prompt 8500 Euro lockergemacht, damit sich jenes Trio standesgemäß kleiden kann. "Eine Karnevalsparty an Weiberfastnacht hatten wir immer schon", blickt Tietz-Polinowski zurück. "Seither haben etliche Bewohner viele Male den Wunsch geäußert, dass sie Prinz werden wollen."

Die maßgeschneiderten Gewänder stammen aus Troisdorf und machen in diesen Tagen mächtig Eindruck. Dabei hat die Betreuerin eigentlich nur einen Wunsch: "»Normale« Menschen sollten nicht länger glauben, dass Menschen mit Behinderung anders behandelt werden wollen", schildert sie. "Wie jeder andere von uns auch, sind sie hier und dort auf Hilfe angewiesen. Und eine geistige oder körperliche Einschränkung ist natürlich nicht ansteckend."

Im närrischen Tross unterwegs sind zudem Thomas (61) und Kerstin (60) Ringel aus Mönchengladbach, die Eltern von Jungfrau Sina. Sie hätten ihren Ohren nicht getraut, als die Tochter eines Tages erklärte, sie mache mit beim Karneval. "Denn damit hatte sie früher nichts am Hut", erinnert sich der Vater. Später, bei jenem Empfang, wischt er sich heimlich manche Träne aus dem Augenwinkel, während Sina ihren Auftritt hat. "So gelöst haben wir unsere Tochter bisher nur selten gesehen", sagt Mutter Kerstin. Sina selbst weiß dagegen noch ganz genau, dass sie 2008 ihren ersten Karnevalszug gesehen hat und dass danach der Wunsch, Jahr für Jahr die tollen Tage zu feiern, immer größer geworden sei. "Ich finde Karneval superrichtig", sagt sie. Und in Begleitung von Bauer Helmut und natürlich Prinz Guido fühle sie sich richtig wohl. Sina Ringel arbeitet übrigens im Dorfladen, Guido Osten und Helmut Dressler sind in der Schreinerei beschäftigt.

Mit Sorgfalt wählt Wilfriede Tietz-Polinowski die Auftritte aus. Viele, viele Einladungen sind auf dem Eichhof eingegangen. "Aber wir können wirklich nicht bei jeder Sitzung auftreten", bedauert die Organisatorin. Sie möchte ihren Schützlingen nur so viel zumuten, wie diese meistern können. "Wir müssen auf Epilepsie ebenso Rücksicht nehmen wie auf ein schweres Rückenleiden", erklärt Tietz-Polinowski und nennt weitere Behinderungen des Trifoliums. "Wir schauen immer genau hin, wie es den dreien geht."

Denn nachdem sich kein Prinzenpaar für die Gemeinde Much finden ließ, stehen die drei vom Eichhof viel öfter im Rampenlicht als zuvor geplant war. "Leider explodieren die Kosten für den Karneval - auch auf dem Land", klagt Ralph Schippers (60). Er ist Vorsitzender des Mucher Karnevalsvereins (MKV) - und der stellt traditionell das Prinzenpaar in der bergischen Gemeinde mit rund 14 500 Einwohnern. Sofern sich Jecke finden lassen, die nach Angaben von Schippers 10 000 Euro in den Spaß investieren wollen.

Schon öfter musste der gebeutelte MKV in der Vergangenheit ohne ein Regentenpaar auskommen. Heute kooperiert der Verein mit dem Dorf für Menschen mit Behinderung: Die Tanzgarde begleitet das Dreigestirn vom Eichhof bei vielen Terminen, der Verein übernimmt Fahrten und bereitet dem Gefolge um Guido I. auch eine Ehrenloge auf der Tribüne, wenn sich am Rosenmontag der große Zug durch Muchs Mitte schlängelt. Und heute, an Weiberfastnacht, will das Dreigestirn natürlich das Mucher Rathaus für sich im Sturm einnehmen.

In der Karnevalshochburg Köln muss unterdessen Sprecherin Sigrid Krebs (51) vom Festkomitee des Kölner Karnevals 1832 lange grübeln, ob es auch in der nahen Domstadt jemals ein solches Dreigestirn gegeben hat: Sie wisse nur von führenden Karnevalisten mit körperlichen Einschränkungen. "Doch haben wir viel erreicht in Sachen Inklusion: Bei jeder Karnevalsgesellschaft, die im Zug mitgeht, sind behinderte Menschen dabei - manche mit Betreuern." Aufträge zur Herstellung von Ornaten und Orden würden zudem bevorzugt an Behindertenwerkstätten vergeben. In der Region sei Ähnliches der Fall, betont Dieter Wittmann (68), Präsident des Regionalverbandes Rhein-Sieg/Eifel im Bund Deutscher Karneval, und erinnert etwa an die Behindertenwerkstätten in Bonn, die Tollitäten stellen. "Man darf diese Karnevalisten doch nicht auf die Seite stellen, nur weil sie ein Handicap haben", findet Wittmann, für den Inklusion ist, wenn man auch die Karnevalsfeiern behinderter Menschen besuche.

Und wenn es in Much etwas zu feiern gibt, ist zum Beispiel Bauer Helmut ganz vorn dabei. "Wenn wir feiern, wird es spät", sagt er und grinst. Bloß ein winziges Stichwort braucht Helmut Dressler, um - nahezu wie eine Musikbox - das passende Stimmungslied zu singen. Aber nicht nur er, sondern auch Claudia Steimel kann an diesem Abend das Lächeln nicht mehr abschalten, zu groß ist die Freude: Seit wenigen Wochen erst trainiert die 56 Jahre alte Betreuerin die fünfköpfige Tanzgruppe, die in Piratenkostümen jeden Saal entert und dem Dreigestirn vorauseilt.

So auch diesmal, alles hat geklappt. Zuvor haben die Tänzer im "Haus der Begegnung" Figuren und die ganz eigene Choreografie geübt. Mittendrin dreht sich Gunther Jakobus (51), einziger Mann in der Riege. Er freut sich über Beifall, für Fotos posiert er gern. "Aber Tanzen macht mir nicht immer Spaß", gesteht er dann, während Bauer Helmut den schweren Kopfputz ablegt und in sich versunken ausruht.

Dass die närrische Inklusion weit gediehen ist, bestätigt Wilfriede Tietz-Polinowski: Als der Eichhof im Oktober seine Regenten proklamierte, gab es eine Rüge von oberster Stelle: Der Bund Deutscher Karneval mit Sitz im hessischen Waldfisch mahnte an, dass Proklamationen erst ab November erlaubt seien. "Dabei sind wir nicht mal ein Karnevalsverein", wundert sich die Betreuerin.

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