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TraumataRaus aus der dunklen Höhle der Scham

Lesezeit 5 Minuten
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Gummersbach – Das Wesen hat sich in einer Höhle verkrochen. Es sitzt in der hintersten Ecke links in eine Decke gehüllt. Vor der Höhle flackert ein Feuer. Was für Laien wie ein gewöhnliches Haus aus Ton aussehen mag, ist für Renate Resch nichts weniger als ein lauter Hilferuf. Ganz ohne Worte.

„Kinder, die sexualisierte, körperliche oder seelische Gewalt selbst erlebt haben oder Zeuge davon wurden, finden oft keine Sprache für das, was sie erlebt haben“, erklärt die Erzieherin, Heilpraktikerin und Psychotherapeutin, die sich derzeit in Psychotraumatologie fortbilden lässt. „Oft müssen wir ihnen erst eine Sprache und eine Form dafür geben.“ Und diese Form ist bei der Beratungsstelle des Vereins „nina + nico“ in Gummersbach häufig Spielzeug, Knete oder Ton.

Szene voller "Blut"

So war die Höhlenszene, die ein elfjähriges Mädchen gestaltete, für die Mitarbeiterinnen des Vereins vor allem ein Symbol für den Wunsch nach Geborgenheit und das Feuer für die Sehnsucht nach Wärme. Spiel als Form des Ausdrucks. Über das Tun zum Reden.

Dabei treten mitunter brutale Szenen zutage. Wie beim „Kunstwerk“ eines zwölfjährigen Flüchtlingsjungen aus dem Irak, der zusätzlich zu den Krieger-Figuren rote Plakatfarbe dazu anrührte. Die gesamte Szene, die der Junge im Spiel nachstellte, war voller „Blut“. Resch: „Er hat eine ganze Schlacht nachgestellt, die er offensichtlich erlebt hatte.“ Wie sich herausstellte, hatte er seine Mutter und seine Schwestern im Krieg verloren.

Therapie im Tonfeld

Die Arbeit im Tonfeld ist nur eine Methode von vielen, Schmerzhaftes im wahrsten Wortsinn verarbeiten zu können. Andere Kinder wählen das Puppenhaus für ihr Rollenspiel oder den Sand-Matsch-Tisch. Es sind ebenso Musik, Tanz oder Malen, die den Mädchen und Jungen helfen, sich aus der Erstarrung oder Zuständen ungezielter Aggression, in der sie oft leben, zu lösen. „Ton verzeiht alles“, sagt Resch. „Er lässt sich schlagen, kneifen, beißen und bespucken, wenn den Kindern danach ist.“

Seit 20 Jahren ist „nina + nico“ fester Bestandteil der Beratungslandschaft sowohl in Gummersbach als auch im ländlich geprägten Oberbergischen Kreis. Gegründet von acht Frauen, ist er bis heute das, was gemeinhin als Low-Budget-Projekt bezeichnet wird. Es leistet kostenlose Hilfe rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr, lebt von wenig Geld und viel Herz.

Die Beratungsräume mitten in der Fußgängerzone an der Kaiserstraße kann sich der Verein nur leisten, weil diese ihm vergünstigt überlassen werden. Der Einsatz der Bürokraft ist nur einmal pro Woche möglich. Die drei Vorstandsfrauen arbeiten ohnehin ehrenamtlich. Und die sieben Mitarbeiterinnen, die 400 bis 450 Beratungen im Jahr durchführen, sind hauptberuflich woanders beschäftigt. Pro Beratung für „nina + nico“ erhalten sie lediglich ein Honorar. Jede Arbeit für den Verein darüber hinaus, jede Vor- und Nacharbeit leisten sie – außer der Anfahrt – ehrenamtlich. Und das ist ein großes Glück für den Kreis.

Übergriffe unter Kindergartenkindern

Dort ist der Verein mit Informationsveranstaltungen in Kindergärten, Grundschulen und derzeit an elf weiterführenden Schulen präventiv aktiv. „Denn“, so Gründungsmitglied und Vorstandsfrau Monica Weispfennig, „Wissen und Aufklärung sind der beste Schutz vor Missbrauch und sexualisierter Gewalt.“

Der Verein gibt Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie Eltern wichtige Informationen. Immer häufiger werden die Expertinnen zu Terminen im Rahmen von Jugend-Freizeitveranstaltungen gebeten. „Allein durch die Arbeit an den Schulen haben wir so bereits mehr als 26 000 Schülerinnen und Schüler erreicht.“

Auch Cybermobbing Thema

Dies gelingt ihnen entweder direkt mit Klasseninformationen oder mittelbar durch von „nina + nico“ gesponserte Theaterstücke zu Themen wie Gewalt, Magersucht oder Risiken im Internet. Für Monica Weispfennig ist es selbstverständlich, dass sie das 24-Stunden-Notfalltelefon, das etwa 350 Mal im Jahr klingelt, seit Beginn Ihrer Vorstandstätigkeit im Jahr 2000 bei sich hat.

Susanne von Rhee berichtet davon, wie das Thema Cybermobbing und sexualisierte Gewalt über das Internet immer mehr in den Fokus ihrer Arbeit rücke: „Pädophile suchen Opfer über das Netz. Es wenden sich aber auch mehr und mehr Familien an uns, deren Kinder im Internet gemobbt, bedroht oder zu sexuellen Handlungen aufgefordert werden.“ Auch die Anfragen von Schulen zu dem Problembereich häuften sich. Hierzu gibt es nun eine Veranstaltungsreihe mit der Kreispolizeibehörde. Beim Thema Schutzkonzepte ist die Beratungsstelle ebenfalls gefragt. „Es braucht Konzepte für jede Einrichtung, wie sie mit Körperlichkeit, Liebe oder Doktorspielen umgehen soll. Und dabei müssen wir auch die Eltern mit ins Boot holen.“

Viele Erziehungsberechtigte seien ratlos und wüssten nicht mehr genau, was noch „normal“ sei, berichtet Beraterin Regina Gerwing, und viele Kinder seien schon im Kindergarten auffällig. „Das hat nicht mehr nur damit zu tun, sich in der Puppenecke mal die Hose runterzuziehen. Heute versuchen Drei- bis Fünfjährige, sich gegenseitig Gegenstände in die Körperöffnungen zu stecken.“ Jungen und Mädchen würden immer drastischer Gesehenes nachempfinden und ausleben, weil die mediale Präsenz größer und Kinder damit sehr mit Sexualität konfrontiert würden.

Bei Jugendlichen versucht „nina + nico“, den Zugang über die Warnung vor den strafrechtlichen Konsequenzen zu bekommen: Die Beraterinnen fordern sie auf, sich etwa in die Rolle der 13-Jährigen hineinzuversetzen, deren Ex-Freund Oben-ohne-Fotos des Mädchens an Kumpels schickte, die sie ausdruckten und im Ort plakatierten. Beraterin Karen Lindenberg: „Da fehlt oft jede Form von Empathie. Die Grenzen des anderen werden nicht mehr wahrgenommen.“

Auch das Thema K.o.-Tropfen, mit denen Mädchen betäubt werden, nehme zu, berichtet Dagmar Steinmann. „Die Opfer wachen irgendwo auf und wissen überhaupt nicht, was mit ihnen passiert ist und wo vielleicht bald Fotos von ihnen auftauchen.“ Insbesondere Karneval, aber auch beim Maibaum-Bewachen auf dem Land steige die Zahl solcher Fälle. Der Verein versucht auch hier zu verhindern, dass Kinder und Jugendliche Opfer oder Täter werden.

„Wichtig wäre eine halbe feste Stelle“, so Weispfennig, „um die Einrichtung langfristig zu etablieren.“ Doch derzeit kann der kleine Verein nicht einmal den schon bestehenden Betrieb garantieren. Der Vorstand weiß nicht, wie er dringend nötige Fortbildungen für seine Beraterinnen finanzieren und das Projekt für traumatisierte Kinder aufrechterhalten soll.

Finanziert wird die Arbeit nur zu einem Zehntel durch öffentliche Zuwendungen, den Rest müssen die Frauen durch Spenden abdecken, die zuletzt ziemlich eingebrochen sind. „Wir brauchen zurzeit 70 000 Euro im Jahr, um unsere Arbeit gewährleisten zu können. Das bedeutet jedes Jahr erneut eine große Herausforderung für uns.“

Kontakt: ☎ 0 22 61 / 2 47 92

http://www.nina-nico.de

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