Abo

Andrea Nahles im Interview„Machen Sie sich keine Sorgen um die SPD“

Lesezeit 7 Minuten
Andrea Nahles während des Interviews in Berlin.

Andrea Nahles während des Interviews in Berlin.

In einem Gespräch mit Andrea Nahles wird es auch mal laut. Die Bundesarbeitsministerin reagiert auf Fragen mit einigem Schwung. Mal weist sie schwungvoll und empört Kritik zurück, mal greift sie zu Stift und Zettel, um Entwicklungen zu skizzieren. Drei Landtagswahlen sind verloren, Angela Merkel ist wieder Umfragekönigin. Drei Monate vor der Bundestagswahl macht Nahles dennoch keinen verzagten Eindruck.

Frau Nahles, Sie müssen doch verzweifeln: So viel Schwung wie Anfang des Jahres nach der Nominierung von Martin Schulz hatte die SPD seit langem nicht mehr – und nun liegen Sie in den Umfragen doch wieder da, wo Sie vorher schon waren.

Nein. Erstens haben doch jetzt alle gesehen, wie groß das Potential der SPD ist. Und zweitens, wie schnell sich die Lage ändern kann. Für mich heißt das nur eins: Es lohnt sich zu kämpfen. Jetzt ist entscheidend, dass wir nicht ständig über Umfragewerte reden, sondern für unsere Themen einstehen und unser Motto in den Vordergrund stellen: Zeit für mehr Gerechtigkeit.

Alles zum Thema Angela Merkel

Wäre es nach drei verlorenen Landtagswahlen nicht Zeit für die Einsicht, dass dieses Thema nicht zündet?

Das ist Unsinn. Es bewegt die Menschen, ob ihre Arbeit gerecht bezahlt wird und sie ihre Rechte gegenüber dem Arbeitgeber durchsetzen können, es bewegt sie, ob genügend Polizei vorhanden ist, die normalen Menschen unabhängig von Status und Einkommen Sicherheit garantiert, und es beschäftigt die Menschen, ob sie im Alter auf eine gute Rente vertrauen können. All das sind Fragen von Gerechtigkeit. .

Dann schauen wir mal auf Ihr Rentenkonzept. Das geht einher mit schneller steigenden Beiträgen zur Rentenversicherung. Ist das gerecht?

Es ist gerecht, weil die heutigen Arbeitnehmer die Gewinner sind. Es geht um die Renten von morgen. Bislang ist für 2020 ein Rentenniveau von 46 Prozent garantiert und bis 2030 von 43 Prozent. Wir wollen beim heutigen Niveau von 48 Prozent bleiben und müssen dafür aktiv in die Speichen greifen. Und wir halten die Beitragssatzziele ein, die bereits jetzt im Gesetz stehen. Das schreckt keinen.

Aber die steigenden Versicherungsbeiträge belasten auch die Arbeitnehmer.

Die Rechnung ist ganz einfach. Wer zum Beispiel 48 Euro mehr Beitrag im Monat zahlt, bekommt 150 Euro mehr Rente raus. Das ist kein schlechter Deal. Den Beiträgen stehen Leistungen gegenüber.

Naja. Der Satz „Die Rente ist sicher“ gilt doch schon länger nicht mehr.

Da rate ich allen einen nüchternen Blick auf die Fakten zu werfen. Kein anderes System hat sich in Zeiten der Niedrigzinsen so bewährt wie die gesetzliche Rente. Kein anderes System hat die Finanzmarktkrise so gut überstanden. Dass dies Anfang des Jahrtausends von vielen anders eingeschätzt wurde, ist richtig. Damals hatten wir fünf Millionen Arbeitslose, eine indiskutabel niedrige Frauenerwerbsquote, 55-Jährige wurden ausgemustert, es gab kaum Migration. Wir konnten in allen Bereichen die Situation deutlich verbessern.

Um die Babyboomer-Jahrgänge abzufedern, wurde die Riesterrente eingeführt. Kann man auf die dann verzichten?

Nein, auf einem Bein können wir nicht stehen. Das würde uns überfordern. Wir haben daher gerade die Betriebsrenten und auch die Riester-Rente gestärkt. Künftig gibt es Freibeträge von bis zu 204 Euro, die nicht mehr auf die Grundsicherung angerechnet werden.

Eine Solidarrente gegen Altersarmut halten Sie aber offenbar trotzdem für nötig.

Das ist richtig. Das hat aber weniger mit dem Rentenniveau als mit teilweise skandalös schlechten Arbeitsbedingungen zu tun, wo wir in der Koalition mit der Union nur teilweise mit dem Mindestlohn und strengeren Regeln für Leiharbeit und Werkverträge gegensteuern konnten. Die Solidarrente sorgt dafür, dass jeder, der ein Leben lang gearbeitet hat, am Ende mindestens eine Rente zehn Prozent oberhalb der Grundsicherung bekommt und dafür nicht ständig zum Amt rennen muss. Das ist eine Frage des Respekts vor der Leistung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

„Je länger wir nach vorne gucken, desto weniger klar wird die Prognose“

Warum endet ihr Konzept im Jahr 2030? Da geht es doch mit den Babyboomer-Jahrgängen erst so richtig los. Je länger wir nach vorne gucken, desto weniger klar wird die Prognose. Die letzten zehn Jahre haben ja gezeigt, wie sehr es darauf ankommt die Rahmenbedingungen richtig zu gestalten. Aber wir verschweigen nichts. Den entscheidenden Kostensprung gibt es voraussichtlich im Jahr 2028, den weisen wir in aller Offenheit aus.

Die SPD hat die Rente mit 67 eingeführt. Die Linkspartei will das Rentenalter senken, die Union will es anheben. Sie bleiben bei 67. Warum?

Der Anstieg des Renteneintrittsalters ist erst 2029 abgeschlossen. Ich kann den Eifer der Union nicht verstehen, jetzt auf 70 hochzugehen. Das lehne ich ab. Das Grundproblem beim Rentenalter ist doch, dass man Berufe und Leute nicht über einen Kamm scheren kann. Deswegen ist der Ansatz der Flexirente vielversprechender, bei dem man Hürden beseitigt, für die, die länger arbeiten können und wollen. Aufpassen muss man dabei, dass das nicht zu Rentenkürzungen durch die Hintertür führt. Steigern kann man das Erwerbsalter jedenfalls nicht ewig: Ab einem bestimmten Alter sind selbst viele Professoren dement. Bemerkenswert ist noch etwas ganz anderes.

Nämlich?

Bemerkenswert ist, dass Frau Merkel kein Rentenkonzept vorlegen will. Das ist doch ein Skandal. Zu einem der wichtigsten Themen der kommenden Jahre verstecken sich CDU und CSU hinter einer Kommission. Das ist Feigheit vor dem Wähler und zugleich auch noch unredlich. Denn jeder in Berlin weiß, dass Spahn und Schäuble für die Rente mit 70 sind und die Uneinigkeit in der Union ansonsten nur dazu führt, dass das Rentenniveau weiter sinkt und die Beiträge trotzdem steigen. Und dafür wollen die dann gewählt werden.

Scheint zu funktionieren. Die Deutschen wollen offenbar lieber weiter eine große Koalition mit Angela Merkel. Und Martin Schulz hat seine Attraktivität verloren.

Gemach, gemach. Es gibt die Tendenz, dass die Wähler sich immer kurzfristiger entscheiden – die meisten erst in den letzten zwei Wochen vor der Wahl. Sehen Sie sich die Aufholjagd vom Labour-Chef Corbyn in London an. Je näher der Wahltag rückt, desto klarer wird die Alternative.

Nur fehlt Ihnen die Machtoption.

Das wird sich zeigen, wenn die Wählerinnen und Wähler entschieden haben. Und da kann sich noch viel tun.

Bei den Linken heißt es, Rot-Rot-Grün sei tot und SPD und Grüne die Totengräber.

Ich kann nur jedem raten, das Kreuz auf dem Wahlzettel bei der Partei zu machen, von der er oder sie glaubt, dass sie das Wohl aller Menschen in unserem Land am besten vertritt und durchsetzt. Und da sollte man sich schon sicher sein, dass diese Partei auch regieren will. Wir haben mit niemandem Gespräche ausgeschlossen, außer mit der AfD. Aber die Parteitags-Beschlüsse der Linkspartei haben die Chance auf konstruktive Gespräche auch nicht gerade erhöht. Deutschland kann sich zum Beispiel nicht mal eben aus der Nato verabschieden, wie die Linke es fordert. Wir müssen uns in einer Welt, die viele Menschen als unsicherer empfinden, verantwortlich verhalten. Dazu fordere ich die Linkspartei auf. Eine linke Mehrheit in Deutschland lässt sich jedenfalls nicht organisieren, indem man die Augen vor den Tatsachen verschließt und aufeinander einhackt, nur weil man Angst vor dem eigenen Existenzverlust hat.

Man kann auch so fragen: Wozu braucht es noch die SPD, wenn es die Linkspartei gibt?

Soll das etwa eine ernsthafte Frage sein?

In Frankreich ist Ihre Schwesterpartei gerade bei unter zehn Prozent gelandet.

Und in Großbritannien bei 40 Prozent. Die Situationen sind nicht vergleichbar. Machen Sie sich keine Sorgen um die SPD! Man muss sich als Partei treu bleiben, man muss kämpfen, man muss die Alternativen klar machen und man muss vor allem Inhalte ernst nehmen: Worum geht es wirklich? Was haben wir mit diesem Land eigentlich vor? Das ist die Leidenschaft, die uns antreiben muss – nicht die Frage nach der Machtoption. Das kann am Ende gut oder schief gehen. Aber wenn man ausstrahlt, dass es einem wirklich um etwas geht, ist man auch glaubwürdig und erreicht die Wähler.

Das Gespräch führten Steven Geyer und Daniela Vates

Zur Person

Andrea Nahles ist eine der zentralen Figuren ihrer Partei. In den 90er Jahren betrat die heute 46-Jährige aus Rheinland-Pfalz die bundespolitische Bühne als lautstarke Juso-Vorsitzende. Sie war danach Sprecherin des linken Parteiflügels und eine der Widersacherinnen des damaligen SPD-Kanzlers Gerhard Schröder und dessen umstrittenen Agenda 2010. Nach der Wahlniederlage der SPD von 2005 führte ihr Versuch, Generalsekretärin zu werden, zum Rückzug von Parteichef Franz Müntefering. Nahles bekam das Amt 2009 nach einer weiteren gescheiterten Wahl. In der Großen Koalition übernahm die studierte Germanistin 2013 das Bundesarbeitsministerium, das Ressort mit dem größten Etat.

KStA abonnieren