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Schauspiel-IntendantMit Stefan Bachmann durchs „schön furchtbare“ Mülheim

Lesezeit 7 Minuten
Stefan Bachmann

Unter der Mülheimer Brücke. Ihre Konstruktion bietet viele Räume, die der Kultur nutzen können, sagt Stefan Bachmann und fordert: Vorwärts denken!

Köln-Mülheim – Der Stadtspaziergang mit Schauspiel-Chef Stefan Bachmann beginnt an einer Birke, die an ihrem Standort gar nicht hätte wachsen dürfen.

Der Platz in Mülheim vor dem Theater, nüchtern „Interimsspielstätte“ genannt, ist komplett betoniert. Der Birkensamen aber hat irgendwo einen Spalt gefunden und ist ausgeschlagen. Inzwischen überragt der Baum den Intendanten deutlich.

Zwar wachsen ringsherum auch viele Pflanzen mit teils abenteuerlichen Namen: der Schnittkohl „Red Giant“ etwa oder „König Humbert“, die Tomate. Aber für sie gibt es mitunter gewaltige Pflanzenkübel mit Erdreich.

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Zusammen machen sie den „Carlsgarten“ aus, unter dem weite Teile der Betonfläche verschwunden sind. Die Birke indes braucht keinen Topf. Sie wurzelt gewissermaßen in Freiheit.

Immer auf der Suche nach Kulissen

Wir machen uns auf den Weg, und der Hausherr weist auf „neue Nachbarn“ hin wie „Telefonica“ oder das „Stuntwerk“. In der Tat hat sich urbanes Leben in Fülle auf dem Gelände des ehemaligen Carlswerks ausgebreitet, und im Restaurant „Offenbach am Carlsgarten“ mit seinen imposanten Leuchtern – gestaltet von Bettina Gruber, der Tochter des Photokina-Begründers L. Fritz Gruber – tummeln sich Mitarbeiter des Schauspiels, aber auch des Verlags Bastei Lübbe oder der TV-Produktion Brainpool.

An der Ecke Keupstraße/Schanzenstraße sinniert Bachmann, was wohl aus den Plänen geworden sein mag, hier ein Mahnmal zum Gedenken an den Nagelbombenanschlag der NSU-Terroristen von 2004 zu errichten. Die Antwort liegt, wie bei so vielen Kölner Themen, offenbar im Ungefähren.

Wir biegen ab auf die Genovevastraße und passieren die „Tages- und Abendschule Köln“, ein Weiterbildungskolleg, dessen Besucher dort ihren Schulabschluss nachholen können. Das Institut ist Partner des Kölner Schauspiels in einem seiner zahlreichen Projekte, wie Bachmann beiläufig erwähnt.

Wo es öde scheint, beginnt Bachmanns Phantasie zu blühen

Wir erreichen den Wiener Platz, den Bachmann „schön furchtbar“ nennt. Am Boden spielt der Wind mit dünnen Plastiktüten und anderem Dreck. In einem Sandhaufen, der offenbar einen Strand simulieren soll, stehen zusammengeklappte Sonnenschirme.

Ein ganzes Völkergemisch, so scheint es, hat auf diesem Platz nur eines im Sinn: ihn schleunigst hinter sich zu lassen. Kunststück! Es gibt nur wenig, was zum Verweilen einlädt. Aber vielleicht liegt es bloß an der sengenden Hitze, die auch uns Spaziergängern zu schaffen macht, dass alles vom Platz fortstrebt.

Schon mit der Auswahl der ersten Ziele unseres Rundgangs erweist sich Bachmann als Theatermensch. Ihm geht es nicht um das romantischste Plätzchen, den besten Kaffee oder die größte Käse-Auswahl. Er taxiert seine Umgebung mit dem geübten Blick des Experten auf der Suche nach Schauplätzen und Kulissen.

Er wittert neue Kulturräume, wo andere lediglich Funktionsarchitektur oder verwahrloste Fassaden sehen. Wo es öde und hässlich zu sein scheint, da beginnt Bachmanns Phantasie zu blühen.

Raum für Kulturschaffende an der Brücke

Der 51-Jährige strebt jetzt in Richtung Rhein und deutet nach rechts, zur Rampe der Mülheimer Brücke, die hier aus dem Boden zu wachsen beginnt. „Da sind viele Hohlräume drin.“ In dem Bau könnten Räume für Kulturschaffende entstehen, Studios, Werkstätten, Galerien, wenn die ganze Konstruktion denn saniert würde. „Vorwärts denken“ müsse man, auch mal utopisch sein, sagt Bachmann.

Und schon sind wir beim Stück „Istanbul“, in dem ein türkischer Nationalist, ein gefolterter Kurde und eine Anhängerin von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit Kopftuch sich selber spielen. Die Annäherung, die hier auf der Bühne vollzogen wird, sei eine Utopie.

Aber im Kleinen sei sie schon Realität, sagt Bachmann, wenn er die Akteure, vom Lampenfieber geeint, einträchtig nebeneinander stehen sehe, obwohl sie doch so vieles trennt. Vielleicht funktioniere das auch eines Tages im Großen. Jedenfalls lasse sich das Prinzip Utopie auch auf Mülheim anwenden.

An der Bachstraße 20 gehen wir „Bei Bruno“ vorbei, einer kölschen Kneipe, die in ihrer Schnörkellosigkeit samt Fritten und Frikadelle im Internet gepriesen wird. Die Gäste blicken unter dem Schutz riesiger Sonnenschirme aufgeräumt zu Bachmann hinüber, der im Vorbeigehen erklärt, mit dem Schauspiel auch hier in einer Form von Kooperation – „nächste Spielzeit“ – engagiert zu sein.

Pferdemetzgerei und Head-Shop

Wir passieren einen offenbar geschlossenen „Head-Shop“ (dort erwirbt man Utensilien für den Haschisch-Konsum) und kommen in der Lohmühlenstraße an der Pferdemetzgerei Weber vorbei, die nur an ausgewählten Tagen geöffnet ist.

An der Mülheimer Freiheit 2-4 stoßen wir auf den Damm, der den Ortsteil vor dem Rhein schützt, und auf das Restaurant von Matthias Willomitzer. Nur wenige Meter trennen „Bei Bruno“ und das „Willomitzer“, und doch liegen Welten zwischen den Lokalen. Solche Sprünge sind charakteristisch für unseren Spaziergang.

Wir gehen ein paar Schritte und stehen unter der Mülheimer Brücke auf einem gewaltigen Platz, der alles aufweist, was einen Platz in Köln ausmacht. Er liegt herrlich, ist völlig verdreckt und wird unzureichend genutzt. Man hat einen fantastischen Blick auf die Brücke, ihre Pfeiler, das andere Ufer und ungenutzten Platz zuhauf.

Zwei Männer aus Soest stehen mit ihrem Kleintransporter an der Begrenzungsmauer, essen Pistazien und schauen verträumt auf das Wasser. Jeden Abend kämen sie her, berichten sie. Tagsüber sind sie auf Montage im wenige Kilometer entfernten Bayer-Werk. Sie sind vertraut mit allem, was dieser raue Platz bietet, bis hin zu den Graffiti. Ein Donald Trump und eine Miss America seien über Nacht auf den Brückenpfeilern erschienen, haben sie beobachtet.

Kölns türkische Seite

Wer mit Stefan Bachmann durch Mülheim geht, dem erschließt sich Schritt um Schritt, dass sich hier zwei gleichsam gefunden haben. Als den „Unglücksraben“ der deutschen Intendanten bezeichnet Bachmann sich selbst – weil die Spielstätte am Offenbachplatz, für die er engagiert worden war, immer noch Baustelle ist.

Ein „Profiteur“ sei er aber auch – weil Mülheim mit all seinen Brüchen für die Theater-Arbeit inspirierend sei. Nur wusste er davon noch nichts, als er zum ersten Mal auf dem Beton-Platz vor der Interimsspielstätte stand, der ihn an einen verlassenen Truppen-Übungsplatz der Roten Armee erinnerte. Damals plagte ihn der Gedanke: „Wie um Himmels willen kann ich hier nur meine Zuschauer willkommen heißen?“ So mutierte der Schauspielchef zu einer Art Stadtplaner oder Quartierscout.

Cafés fürs trendige Publikum

Wir lassen die Brücke hinter uns und passieren das Kunstforum St. Clemens, die frühere Schifferkirche, die im 12. Jahrhundert entstand. An der Peter-Müller-Straße gehen wir an bunten Häusern vorbei, die so auch in Kapstadt oder San Francisco stehen könnten und Teil eines dichten Durcheinanders an Baustilen und Eindrücken sind. Nur wenige Schritte entfernt stößt man an der Mülheimer Freiheit 54 auf das „Cafe Jakubowski“.

Kulturell gehört es eher zum „Willomitzer“, wie auch das Café „VreiHeit“ in der Wallstraße 91, das wir kurz darauf entdecken. Beide wenden sich an ein trendiges Publikum. Das Viertel zwischen Rhein und Clevischem Ring mit seinem Verkehrstrubel ist eine Ansammlung von Biotopen, die man hier nicht vermutet.

An der Adamsstraße 47 gehen wir am Lutherturm vorbei, einer Kirche, die zwischen 1893 und 1895 erbaut und nach der Zerstörung im Krieg wiedererrichtet wurde. Der Turm sieht von vorne geheimnisvoll aus, macht aber einen verschlossenen Eindruck. Auch hier wünscht man sich, die Utopie – der Turm begehbar und strahlend – würde Wirklichkeit.

Schließlich landen wir in der Keupstraße 44-46 im Restaurant „Kapadokya“. Dort gibt es Bier, und man sitzt im Lokal luftig wie auf einer Außenterrasse. Bachmann und sein Schauspiel sind hier, wo Köln sich unumwunden von seiner türkischen Seite zeigt, nicht mehr wegzudenken – seit den Stücken „Die Lücke“ und „Glaubenskrieger“, die wie „Istanbul“ Themen des Miteinanders aufgreifen. Seit 2013 inszenieren Bachmann und sein Team hier. Das Theater-Publikum ist größer, jünger und bunter geworden seitdem.

Eigentlich wollte Bachmann auf unserem Rundgang gar nicht in die Keupstraße gehen. Weil ihm das als Signal irgendwie zu plakativ vorgekommen sei. Aber warum mit Bedacht aussparen, was für Bachmann doch Lebensraum geworden ist? Passanten schlendern vorbei.

Die Abendhitze macht alle gleichermaßen träge. Im Hier und Jetzt ist schon ein kleines Stück Utopie Wirklichkeit geworden.

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