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Professor Michael Quante im Interview„Ich glaube, dass Marx heute sehr aktuell ist"

Lesezeit 7 Minuten
Er wollte als Philosoph die Welt verändern. Hölzerner Schattenriss der geplanten Karl-Marx-Statue in Trier

Er wollte als Philosoph die Welt verändern. Hölzerner Schattenriss der geplanten Karl-Marx-Statue in Trier

Köln – Herr Quante, vor 150 Jahren ist „Das Kapital“ erschienen. Muss man sagen, dass Marx die Welt verändert hat, die Philosophen aber immer noch dabei sind, die Welt unterschiedlich zu interpretieren?

Die Philosophen müssen die Welt unterschiedlich interpretieren, das ist unvermeidlicher Ausdruck der Pluralität unserer modernen Welt. Aber ich denke nicht, dass Philosophen die Welt heute ausschließlich interpretieren, sonders dass viele von ihnen vermittelt oder auch ganz direkt in gesellschaftliche Prozesse eingreifen.

Wo zum Beispiel?

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Etwa in der alltäglichen Tätigkeit in Ethik-Kommissionen oder durch Mitarbeit in interdisziplinären Forschungsverbünden, die sich mit den derzeitigen gesellschaftlichen Herausforderungen beschäftigen. Interpretationen, hier würde ich Marx widersprechen, die darauf ausgelegt sind, transdisziplinär einzugreifen, sind ein Mittel, die Welt zu verändern. Der Gegensatz „Die Welt interpretieren“ und „Die Welt verändern“ ist weniger einfach, als es die 11. Feuerbach-These suggerieren mag. Auch wenn sie mit Blick auf manchen kulturwissenschaftlichen Konstruktivismus oder philosophischen Eskapismus sicher immer noch einen Punkt trifft.

Ist Marx noch aktuell?

Ich glaube, dass Marx heute sehr aktuell ist und es auch immer war. Die kurzfristige Aktualitätskette: Krise des Euro, Krise des Weltmarktes, Krise der sozialen Sicherungssysteme und Marx’sche Kapitalismuskritik stellt allerdings eine viel zu kurz greifende Aktualisierung dar. Die Aktualität seines Denkens liegt nach meiner Lesart vor allen darin, konsequent von einem philosophisch-anthropologischen Modell auszugehen und eine ethisch imprägnierte Deutung der Gesellschaft des Menschen in Form einer kritischen Sozialphilosophie zu entfalten. Sie hat viele attraktive Komponenten: Sie zeigt ihr kritisches Potenzial, wenn man über Technisierung nachdenkt oder auch über das Verhältnis von Autonomie, Leiblichkeit, medizinischen Fortschritt, Verbrauch von Ressourcen etc.

Also ist er kein ausschließlicher Krisendenker?

Wer die Aktualität von Marx eindimensional in seiner Krisentheorie verortet, erliegt dem gleichen Ökonomismus, der seine Rezeption als Philosoph so lange überdeckt hat. Die Philosophie von Marx wird dann auf Ökonomie reduziert. Um dies zu korrigieren, haben wir in dem „Marx-Handbuch“, welches 2015 erschienen ist, Karl Marx als Philosophen ins Zentrum gestellt.

Marx lieferte eine perfektionistische Deutung des Menschenbildes und steht somit mitten in der Aufklärung.

Das unterschreibe ich in jeder Hinsicht. Zum einen gehöre ich zu denen, die Marx im Kontext der deutschen Idealisten Kant, Fichte oder Hegel lesen, und ihn in der Tradition der Aufklärung Schillers, Humboldts oder Herders sehen. Das ist ganz sicher eine intellektuelle Wurzel des Marx’schen Denkens. Sein Perfektionismus hängt mit dieser Tradition zusammen. Aus diesem Grunde kann man Marx heute allerdings auch nicht einfach eins zu eins übernehmen.

Warum nicht?

Das Paradoxe ist, dass die Kritikfolie, die er uns liefert, sehr aufschlussreich ist und vielen unmittelbar brauchbar zu sein scheint, obwohl die dahinterliegenden normativen Annahmen problematisch sind. Man muss den perfektionistischen Ansatz der Vervollkommnung aller individuellen und Gattungseigenschaften zu einer Konzeption weiterentwickeln, in der es nicht um die Perfektionierung der Gattung geht, sondern um die Sicherung von Ermöglichungsbedingungen für jedes menschliche Individuum. Es geht um Mindeststandards, von denen aus die Menschen ein autonomes und gutes Leben führen können. Das sind etwas schwächere evaluative Annahmen, die in einer neo-liberalen Gesellschaft aber immer noch hinreichend provokativ sind. Sie stehen in der philosophischen Tradition einer Konzeption des gelingenden Lebens, in der die Sozialität und Leiblichkeit des Menschen eine zentrale Rolle spielt. Damit ist ein Unterschied zu den formalen Gerechtigkeitstheorien der Ethik und Politischen Philosophie markiert.

Was wären es für Bedingungen, die man da schafft? Die Philosophie wäre hier universalistisch und geht über die jeweiligen Bedingungen des Lebens von Menschen hinaus?

Ihre Frage enthält ein schwieriges Problem. Wir haben heute einen dominanten Diskurs von internationaler Gerechtigkeit, von allgemeinen Menschenrechten und universaler Menschenwürde, der eine starke normative Kraft hat, eben weil er universalistisch ist. Das ist seine Stärke und zugleich seine große Schwäche, weil man kontextuelle Besonderheiten auch in ihrer ethischen Relevanz dann nicht mehr in den Blick bekommen kann. Man muss sie zugunsten der angestrebten universalen Geltung ausblenden. Das ist nicht in jeder Frage und jedem Kontext ethisch die richtige Strategie. Umgekehrt fällt man ohne diese Universalisierungsdimension in einen kulturellen Relativismus zurück: Normative Kritik, auch über kulturell unterschiedliche Gesellschaften oder soziale Gruppen und deren jeweilige historische Perspektiven hinweg, wäre nicht mehr möglich.

Darin liegt ein Problem.

Das kann, die politischen Entwicklungen der letzten beiden Jahre belegen dies sehr nachdrücklich, nicht die richtige Antwort sein. Für diese Spannung gibt es aus meiner Sicht keine vollständig befriedigende theoretische Lösung. Aber man kann bei Hegel oder Marx sowie auch bei aktuellen Denkern das Bemühen feststellen, Kontextualität, spezifische Forderungen für bestimmte Kulturräume und -regionen mit universalisierbaren ethischen Geltungsansprüchen zusammenzubringen. Es gibt allerdings auch Probleme, wo sie sich nicht zusammenbringen lassen. Es ist also eine spannungsvolle Einheit. Aristoteles war der Ansicht, dass unsere Ethik, anders als vielleicht die Mathematik, nicht vollkommen konsistent zu machen und in dem Sinne nicht theoria ist. Es gibt Konstellationen, in denen wir nicht alle ethisch wünschenswerten Aspekte gleichermaßen integrieren können. Ich glaube, dass wir diese Begrenztheit und Fragilität unserer Ethik und unserer ethischen Praxis aushalten müssen.

Die Philosophie, die nach Hegel das Leben und die Wirklichkeit ja begrifflich fassen will, findet hier also eine Grenze?

Ja. Das ist eine der Lektionen, die man von Marx lernen kann. Er hat, wie viele der anderen Junghegelianer auch, dieses ungeheure Selbstvertrauen in und den Anspruch an die Philosophie, den Hegel mit ihr verbunden hat, nicht mehr gehabt. Zugleich hat Marx aber darauf bestanden, den Anspruch Hegels, philosophisch aufs Ganze zu gehen und in Zusammenhängen zu denken, nicht aufzugeben. Dies mit dem Ziel, es kritisch im Blick auf eine gesellschaftliche Veränderung anzuwenden. „Anwenden“ meint dabei, die Gesellschaft mit Hilfe philosophischer Reflexion und kritischer Intervention weiterzuentwickeln. Ein solches Philosophieren kann weder eine rein theoretische Aufgabe sein, noch kann die Philosophie sie ohne Zusammenarbeit mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen in Angriff nehmen. Wenn wir heute von Inter- und Transdisziplinarität sprechen, zielen wir auf etwas ab, das auch Marx selbst vor Augen hatte. Ein Problem bei Hegel, aber auch bei Marx, liegt in ihrer geschichtsphilosophischen Hintergrundtheorie, die mit der Kategorie des begrifflichen und normativen Fortschritts arbeitet.

Inwiefern?

Das Fortschrittsdenken wollen wir an vielen Stellen ja auch nicht völlig über Bord werfen, sonst ließen sich reaktionäre gesellschaftliche Prozesse oder Ordnungsvorstellungen nicht mehr kritisieren. Aber der Anspruch, aus der reinen Theorie heraus zu zeigen, dass der Fortschritt begrifflich oder gar politisch-revolutionär garantiert ist, diese starke Hoffnung wird keine geschichtsphilosophische Überlegung des 21. Jahrhunderts mittragen können. Das Marx’sche Denken steht an der Umbruchstelle von ungeheurem Fortschrittsoptimismus einerseits und dem Misstrauen gegenüber dem idealistischen philosophischen Programm, alles in einer Gesamtperspektive totalisierter Vernunft versöhnen zu können. In den Texten von Marx ist mal das optimistische Fortschrittsmotiv, mal das kritische Motiv stärker. Das macht ihn spannend, es verhindert aber zugleich, sein Denken als ein Rezeptbuch zu verstehen, dem man fertige Lösungen einfach entnehmen könnte. Jede systematische Lektüre von Marx muss selbst festlegen, an welche Aspekte seines Denkens sie heute, und zwar in eigener Verantwortung, noch anschließen will.

Marx arbeitete bereits interdisziplinär. Ist die Zeit, in welcher der Denker einsam in seinem Studierzimmer saß, vorüber?

De facto in einer modernen Universität, ja. Die Vorstellung, dass man Philosophie ausschließlich so betreiben kann, war nie zutreffend, und sie war nie ein unumstrittenes Ideal des Philosophierens.

Zur Person

Michael Quante (54) ist Professor für Praktische Philosophie der Uni Münster und Wissenschaftler des Exzellenzclusters „Religion und Politik“.  Zuvor lehrte er an der Uni Köln.  Zudem war er von 2012 bis 2014 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie.

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