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LiteraturKölner Schriftsteller Jürgen Becker feiert 85. Geburtstag

Lesezeit 5 Minuten
Jürgen Becker, zu Hause in Köln-Brück.

Jürgen Becker, zu Hause in Köln-Brück.

Köln – Gern wäre er Landschaftsmaler geworden, bekannte Jürgen Becker einmal. Es kam anders, wie man weiß: Becker wurde Schriftsteller, oder „Texteverfasser“, wie ihn Hans Magnus Enzensberger in den 60er Jahren angesichts seiner experimentellen, „offenen“ Schreibweise genannt hat.

Doch auch ein Dichter kann Landschaften malen, eben mit Worten, und so ist der Raum ein nahezu existenzieller Bestandteil in Beckers Texten. Die Wiesen des Bergischen Landes, die Verkehrsachsen in seiner Heimatstadt Köln, die zweite Heimat im deutschen Osten, in die er 1939 mit den Eltern zog – das sind Landmarken seiner Lyrik und Prosa, seiner verschriftlichten Topographie.

Becker als Fotograf und Schriftsteller

Wie ausgeprägt Beckers Sensorium für die Umgebung ist, zeigt sich nicht allein in seiner Literatur. 1972 besuchte er New York, damals noch eine Weltreise entfernt. Im Gepäck hatte er einen Fotoapparat, eine Rollei – präzise Aufnahmen von einer Stadt zwischen Größe und Gosse arrangierte Beckers Sohn Boris, selbst Fotograf, vor wenigen Jahren zu einem Bildband. Er zeigt den Landschaftsmaler als urbanen Flaneur, in einer „Zeit ohne Wörter“, wie Becker ein Jahr vor seiner Amerikareise ein Buch genannt hat, mit dem man ihn ebenfalls als Fotograf erlebte und ihm sozusagen beim Verstummen zusehen konnte.

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So ist Becker nicht nur ein Schriftsteller, der sensibel auf äußere Reize, auf optische Impulse, auf Architektur und Landschaft reagiert – er ist darüber hinaus ein Autor, der höchst skrupulös sein Schreibwerkzeug führt, das sich bis heute jeglicher digitalen Revolution verweigert und in einem schlichten Bleistift besteht.

In einem Gedichtband rief er „Das Ende der Landschaftsmalerei“ aus

Zumal in seiner Frühzeit als Autor, in den 60er Jahren, waren seine Bücher wie „Felder“ und „Ränder“, aber auch die Hörspiele wie „Bilder“, „Häuser“ und „Hausfreunde“ Stimmencollagen, fragmentarische Stoßfeuer in seinem „Radiokopf“, die sich um Gattungsgrenzen wenig scherten und der Tradition misstrauten: das herkömmliche Erzählen war Becker damals fremd, und ausgerechnet er, der verhinderte Landschaftsmaler, rief in einem Gedichtband „Das Ende der Landschaftsmalerei“ aus, denn der überlieferten Naturdichtung hatte die ökologische Katastrophe der Moderne längst den Garaus gemacht.

In diesen Jahren war Becker nach einer Mitarbeit beim Westdeutschen Rundfunk Lektor im Rowohlt-Verlag. Die Doppelexistenz zwischen Schriftstellerei und Brotberuf blieb ihm eigen: 1973 übernahm er die Leitung des Suhrkamp-Theaterverlags, im Jahr darauf wechselte er als Hörspielchef zum Deutschlandfunk, bei dem er bis zu seiner Pensionierung 1993 blieb. Ein Mann mit zwei Schreibtischen, mindestens – im Hochhausbüro am Raderberggürtel, und zu Hause im rechtsrheinischen Brück sowie in einem Fachwerkhaus samt hergerichteter Scheune nahe Odenthal im Bergischen Land.

Beckers Bücher als Orientierungshilfe durch Köln

Es blieb nicht aus, dass der Angestellte Jürgen Becker dem Autor Jürgen Becker den ein oder anderen Satz diktierte. Denn „alles, was ich schreibe, ist beeinflusst und gesteuert durch Erfahrung“, wie er sagt. So findet sich in seinem Prosaband „Erzählen bis Ostende“ aus dem Jahr 1981 eine Passage, die den Arbeitsplatz des Protagonisten Johann beschreibt – aber ebenso gut die Wirkungsstätte des Hörspielredakteurs Becker charakterisieren könnte: „Von meinem Bürofenster aus hatte ich einen sagenhaften Blick auf die ganze Stadt und den ganzen Ballungsbrei drumherum, auf Flusswiesen und Fluss, Brücken, Wälder und Hügel bis zum Horizont.“

Man kann durch Köln laufen und Beckers Bücher zur Orientierung benutzen, so genau kann dieser Autor beschreiben. Doch es gibt immer die zweite Achse in seinem Werk, die der geografischen Ebene die historisch-biografische Tiefe verleiht: Dies ist die Erinnerung. Sie ist in den vergangenen Jahrzehnten immer bedeutsamer geworden, vor allem, seit die Mauer fiel und Becker wieder ungehindert die Stätten der Kindheit besuchen konnte. Erfurt, die Ostsee bei Ahrenshoop, das sind die neuen alten Gegenden, in denen Becker in die Vergangenheit eintaucht und plötzlich etwas findet, was sich bereits in der Reise nach Ostende angekündigt hat – er entdeckt das Erzählen.

Er fragt immer wieder: Welche Echos lösen äußere Ereignisse im Innern aus?

Geschichte lässt sich für Becker am besten mit Geschichten erzählen, und davon sind auch seine Journalromane und Journalgedichte randvoll, die er in den vergangenen Jahren wie zuletzt mit „Graugänse über Toronto“ geschrieben hat. Auch die zahlreich erlebten Spaltungen lassen sich so vielleicht am ehesten erfassen, die Brüche, die Becker schmerzen: im Großen wie die Teilung Deutschlands, im eigenen Leben wie die gespaltene Kriegskindheit zwischen Köln und Erfurt und die neuerliche Flucht in den Westen zurück, diesmal über eine Zonengrenze hinweg.

Becker horcht diesen Friktionen und Spannungen nach, in seinen Hörspielen tut er dies wortwörtlich, und damit vermisst er eine weitere Landschaft – die innere, die Seelenlandschaft. Er ist ein Chronist seiner Zeit, aber vor allem zeichnet er auf, welche Echos das äußere Ereignis im inneren Erleben auslöst. Er, der den Worten bis hin zum Verstummen misstraute, lässt sich doch von ihnen tragen und in die manchmal verborgenen Winkel der eigenen Erinnerung führen. Es gelingt ihm immer wieder, auch jetzt, da Jürgen Becker seinen 85. Geburtstag feiert.

Zahlreiche Preise und Ehrungen für Jürgen Becker

Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren. Die Kriegsjahre verbrachte er in Erfurt. 1964 erschien im Suhrkamp Verlag sein Prosatext „Felder“, im Jahr darauf gab er mit Wolf Vostell die Dokumentation „Happenings, Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme“ bei Rowohlt heraus.

„Schnee in den Ardennen“ war 2009 Buch für die Stadt. Das Kölner Literaturhaus ehrt Jürgen Becker zum Geburtstag morgen, am Dienstag, mit einer Lesung des Autors im Forum Volkshochschule im Museum am Neumarkt.

Die Gruppe 47 verlieh 1967 ihren Preis an Becker. Zahlreiche Auszeichnungen folgten, bis hin zum Georg-Büchner-Preis, der ihm 2014 zugesprochen wurde.

Das Museum für Photographie in Braunschweig zeigt vom 11. August bis zum 24. September die Ausstellung „Jürgen Becker. New York 1972“. Sie umfasst zirka 90 Arbeiten aus dem gleichnamigen Buch, das Beckers Sohn Boris im Sprungturm-Verlag herausgebracht hat. (F.O.)

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