Verdi-Chef Bsirske im Interview„Sparkurs war der große Fehler“

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Verdi-Chef Frank Bsirske beim Gespräch im Neven DuMont Haus

Verdi-Chef Frank Bsirske beim Gespräch im Neven DuMont Haus

Herr Bsirske, reden wir nicht über den Wahlkampf, reden wir über die Zeit nach der Wahl: Was wird die wichtigste Aufgabe der künftigen Bundesregierung sein? 

Die neue Sicherheit von Arbeit. Die Zunahme prekärer Jobs ist die Kehrseite der günstigen Entwicklung am Arbeitsmarkt. Wir haben 3,6 Millionen entsicherte, prekäre Arbeitsverhältnisse dazubekommen, dafür aber 1,9 Millionen Vollzeitstellen verloren.

Warum ist die „Sicherheit“ von Arbeit wichtiger als die Arbeit selbst?

Alles zum Thema Armin Laschet

Ein Beispiel: Der Online-Handelsriese Amazon hat einen Mitarbeiter abgemahnt wegen „zweimaliger Inaktivität innerhalb von fünf Minuten“. Das Unternehmen erfasst mit einem Scanner am Handgelenk jede Bewegung seiner Beschäftigten, systematische „Ineffektivitätsprotokolle“ gehören zum Führungsinstrumentarium von Amazon. Die Leute sollen laufen und nicht stehen. Das ist eine neue Dimension der Überwachung und des Drucks, dem die Mitarbeiter in ungesicherten Arbeitsverhältnissen praktisch hilflos ausgesetzt sind. Unter den Folgen von Prekarisierung und Lohndumping leiden aber nicht nur die Beschäftigten.

Sondern?

Auch dazu ein Beispiel: Eine Gesetzesnovelle von 2013 für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) hat im Wettbewerb um Aufträge dazu geführt, dass kommunale Unternehmen mit Tarifbindung und sozialen oder ökologischen Auflagen das Nachsehen gegen billigere private Anbieter haben. Zum ersten Mal musste jetzt in Pforzheim der kommunale Verkehrsbetrieb, ein 100 Jahre altes Traditionsunternehmen, schließen. Die Kommunen brauchen dringend eine Klausel im Gesetz, die ihnen Vorgaben für Sozial- und Umweltstandards erlaubt.

Eine Initiative der SPD im Bundestag ist am Widerstand der Union gescheitert. In NRW werden aber in den nächsten zwei, drei Jahren 90 Prozent der Vergaben neu ausgeschrieben werden. Wir reden über eine Existenzbedrohung für den ÖPNV in ganz NRW, wir reden über die Bedrohung für Zehntausende von Arbeitsplätzen und für die Qualität des öffentlichen Verkehrs. Ich erwarte deshalb von Ministerpräsident Armin Laschet, dass er die Union nach der Bundestagswahl zu einem Sinneswandel anhält. Das gehört zu den zentralen Fragen für die nächste Legislaturperiode.

Welche Themen noch?

Die Rentenpolitik und die Staatsfinanzierung. Wenn die gegenwärtige Rentenpolitik fortgesetzt wird, laufen wir auf millionenfache Altersarmut zu und auf ein massives Legitimationsproblem der gesetzlichen Rentenversicherung, weil ein Arbeitnehmer selbst bei einem Durchschnittseinkommen nach 40 Jahren Beiträgen nur unwesentlich mehr Rente erhält als derjenige, der nie auch nur einen Cent in die Rentenkasse gezahlt hat.

Was fordern Sie?

Eine deutliche Erhöhung des Bundeszuschusses in die Rentenkasse bei einer Anhebung der Beitragssätze auf bis zu 25 Prozent bis 2040. Paritätisch finanziert kommt das die Arbeitnehmer nicht teurer als die heutigen Beitragssätze zuzüglich der privaten Vorsorge etwa über die Riester-Rente. Nur so sichern wir einen Grundpfeiler des Sozialstaats und erfüllen das Versprechen, das die solidarische Sozialversicherung den Menschen macht.

„Schulz´ Ruf nach mehr Gerechtigkeit ist richtig”

Bei den Staatsfinanzen – lassen Sie uns raten! – plädieren Sie für eine Neuverschuldung?

Klar ist: Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, und jeder weiß, dass zentrale Handlungsfelder des Staates massiv unterfinanziert sind – die öffentliche Infrastruktur ebenso wie der Bildungssektor, der soziale Wohnungsbau oder die Pflege. Um allein in der Bildung auf das Niveau der skandinavischen Länder zu kommen, müsste Deutschland annähernd 40 Milliarden Euro jährlich mehr ausgeben. Der Investitionsstau insgesamt summiert sich auf dreistellige Milliardenbeträge.

Deshalb ist die „Politik der Schwarzen Null“ die große Fehlleistung der großen Koalition, und das Festhalten der CDU/CSU an diesem „strategischen Projekt“ zeigt die ganze Desorientierung der Unionsparteien. In einer Negativzins-Phase, in der man mit der Aufnahme von Krediten und Staatsanleihen nicht nur Geld bekommt, sondern daran sogar noch verdient, ist die Schwarze Null als „das“ Erfolgskriterium der eigenen Finanzpolitik nicht nur ökonomischer Irrsinn, sondern auch denkbar unsozial. Mit kluger Finanzpolitik hat das nichts zu tun.

Es war die gemeinsame Politik von Union und SPD in der großen Koalition!

Die SPD wollte sich nicht das Etikett „Schuldenmacher“ aufkleben lassen. Das ändert aber nichts an der ökonomischen Abwegigkeit.

Erwarten Sie von Martin Schulz eine Abkehr von diesem Kurs?

Ich finde seinen Ruf nach mehr sozialer Gerechtigkeit richtig.

Der Verdi-Chef möchte den Sonntagsschutz beibehalten

Warum halten Sie in der Tarifpolitik trotz der rasanten Veränderungen in der Arbeitswelt auf Biegen und Brechen am Traditionsinstrument „Tarifbindung“ fest?

Nicht trotz, sondern wegen der Veränderungen. Die fortschreitende Erosion der Tarifbindung seit den 1990er Jahren hat für 40 Prozent der Arbeitnehmer zu Reallohnverlusten geführt. Im Einzelhandel arbeiten überhaupt nur noch 30 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden. Ohne Tarifbindung zu arbeiten, heißt aber konkret übersetzt, 20 bis 30 Prozent weniger Lohn zu bekommen. Deswegen müssen wir – Stichwort: neue Sicherheit der Arbeit – alles dafür tun, das Tarifsystem zu stabilisieren und zu stärken.

Auf die Gefahr hin, dass Branchen und Unternehmen in der Krise – Medienhäuser gehören dazu – vollends in die Knie gehen? Da führt die Tarifbindung von Arbeitsverträgen bestenfalls dazu, dass erst gar keine mehr geschlossen werden.

Na ja. Ich habe noch keine Gewerkschaft erlebt, die sich in Notsituationen Sanierungstarifverträgen verweigert hätte. Aber nehmen Sie eine Branche wie den Einzelhandel. Bis zum Ende der 90er Jahre haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt, mit dem Argument, dass Wettbewerb nicht über Dumpinglöhne auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden sollte.

Das Verlassen der Linie hat zu einem Vernichtungswettbewerb ungekannten Ausmaßes geführt. Die Leidtragenden sind die Beschäftigten. Die Zahl der prekären Jobs steigt, Altersarmut ist programmiert. Soll man das als „unausweichlich“ hinnehmen? Ich finde, nein. Im Gegenteil: Wir müssen diese Entwicklung umkehren – um der Gesellschaft willen, die sonst den Preis für die Profite der Unternehmen zahlt.

Die neue Landesregierung will ein Wahlversprechen einlösen und den Sonntagsschutz lockern. Sie machen dagegen Front. Sind ein paar verkaufsoffene Sonntage zusätzlich – als Option – so schlimm?

Sie wissen, dass wir mit Amazon, das sich jeglicher tarifvertraglicher Regelung verweigert, in ständigem Clinch liegen. Das strategische Ziel von Amazon lautet „Arbeiten 24x7“ – rund um die Uhr, an sieben Tagen der Woche. Ginge es nach der FDP, würde sogar das erlaubt. Bekäme Amazon aber einen solchen Kuhfuß in die Hand, ist der Sonntagsschutz bald vollends ausgehebelt, der freie Sonntag Geschichte.

Ich will ihn als grundsätzlich arbeitsfreien Tag erhalten und weiß mich darin einig mit dem Bundesverfassungsgericht. Wir wehren uns gegen die weitere Atomisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft und setzen deshalb allen Versuchen Widerstand entgegen, den Sonntagsschutz scheibchenweise abzuschaffen. Dazu gehört auch der Vorstoß der schwarz-gelben NRW-Regierung, den Kommunen zusätzliche verkaufsoffene Sonntage zu ermöglichen.

Zur Person:

Frank Bsirske, 65, ist seit der Gründung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ihr Vorsitzender. Zuvor führte er die Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), die in Verdi aufging. Bsirske ist Mitglied der Grünen.

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