Drei Über-100-jährige Kölner im Interview„Und jetzt zum Abschluss noch der Trump“

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Adele Michels und Minna Tetem im Gespräch.

Köln – Als Minna Tetem (102), Adele Michels (104) und Walter Jagdmann (103) geboren wurden, fuhren noch Postkutschen durch Köln. Mehr als ein Jahrhundert bewahren die drei in ihrer Erinnerung: Als kleine Kinder erlebten sie den Ersten Weltkrieg. Adele Michels erinnert sich noch gut daran, als die Kanonen von Pferden durch ihr Heimatdorf bei Grevenbroich gezogen wurden. Die Jugend in der Weimarer Republik, die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs – „und jetzt zum Abschluss noch der Trump“ stöhnt Minna Tetem. Wie lebt es sich mit 100 Jahren, wenn es um einen herum immer einsamer wird?

Herr Jagdmann, wie macht man das, 100 Jahre alt werden?

Walter Jagdmann: Das ist natürlich nicht mein Verdienst, aber ich habe vielleicht ein bisschen beigetragen: Kein Fernseher, der ist Zeitverschwendung und bringt die Welt nicht weiter, viel zu Fuß gehen, keine Zigaretten. Ich glaube aber, am aller wichtigsten ist es, dass ich die Dinge, die ich im Leben getan habe, gerne getan habe.

Adele Michels: Also ich glaube, das harte Arbeiten hat mir nicht geschadet. Wenn ich mir so überlege, was man alles wegstecken musste, wundere ich mich selber, dass ich noch da bin. Meine Mutter habe ich mit acht Jahren verloren, da war die Kindheit zu Ende, mein Vater folgte ihr mit 18 Jahren. Ich hab mich als Haushaltshilfe im Kloster durchgeschlagen. Klingt zwar irgendwie blöd, aber: Ich habe gute Gene. Ich liebe das Leben und ich nehme alles, was auf mich zukommt an. Das ist mein Rezept. Außerdem singe ich den ganzen Tag.

Minna Tetem: Ich lebe einfach gern und sage immer: Bloß nicht hängen lassen. Das ist wichtig.

Frau Tetem hat sich für den Termin am Kaffeetisch sehr schick gemacht. Mit Spitzenbluse unter dem Blazer und Seidentuch. Immer wieder nestelt sie an ihrer Halskette. Dass sie, die in Ostpreußen geborene jüngste von zehn Geschwistern, gewagt hat, dem Dorf samt Bauernhof den Rücken zu kehren und 1936 auf eigene Faust nach Köln zu ziehen, darauf ist sie heute noch stolz. Leben wir heute in schwierigen Zeiten oder war nicht damals vieles viel schwieriger?

Jagdmann: Ach das kann man nicht so pauschal beantworten. Ich habe mich immer wieder dem Wandel angepasst und das Beste für mich draus gemacht. Trotzdem war im Rückblick wohl die Nazi-Zeit die schwierigste Zeit, da war das mit dem Anpassen keine Option. Ich war in der SA und als 1938 hier in Köln die Judenpogrome begannen, regte sich in mir Widerstand. Ich bin Christ und Jesus war Jude. Ich bin aus der SA ausgetreten und bekam eine Stelle in der Verwaltung des BDM. Das war nicht einfach, zumal in einem deutschnationalen Elternhaus. Wenn sonntags der Pfarrer predigte: „Das ist der Mann, den uns Gott gesandt hat“ und Hitler meinte, hat einen als junger Mensch in schwierige innere Auseinandersetzungen gestürzt.

Tetem: Im Ersten Weltkrieg war ich ja noch ein kleines Kind. Im Zweiten Weltkrieg war alles schlimmer: Mein Mann war in Russland an der Front und dann im Ural in Gefangenschaft. Ich musste mit meiner einjährigen Tochter und schwanger mit dem Sohn flüchten. Dann kamen die russischen Soldaten, die uns immer wieder vergewaltigt haben. Ich habe innig gebetet, nicht schwanger zu werden und hatte Glück. Andere Freundinnen hatten das nicht, trieben die Kinder ab und haben sehr daran gelitten. Ich habe die Kinder alleine groß gezogen. Als mein Mann heim nach Köln kam, ging meine Tochter schon in die Schule. Es dauerte ewig, bis ich ihn hochgepäppelt hatte. Dann wollte wir nur noch eins: Endlich leben! Und reisen.

„Ja, Reisen“, entfährt es Frau Michels begeistert, die vorher noch erzählt hatte wie sie in der Kölner Innenstadt gleich zweimal ausgebombt wurden und im Luftschutzkeller von Kardinal Frings Flucht suchten. Bei dem Stichwort Reisen tritt ein Lächeln auf alle drei Gesichter, so dass sich der Eindruck aufdrängt, auch das Reisen bis ins hohe Alter ist ein Rezept fürs Fitbleiben ist.

Michels: Norwegen, das ist mein Traum. Mein Sohn hat ein Wohnmobil, und der hat mich noch in hohem Alter öfter mitgenommen dorthin. Die Natur und die Menschen, das fasziniert mich. Da ist alles nicht so hektisch wie hier.

Tetem: Ich liebe Teneriffa!

Jagdmann: Ich bin mit 64 Jahren in Rente gegangen. Die wollten mich noch länger beschäftigen, aber ich habe wollte unbedingt endlich reisen. Mann weiß doch nicht, wie viel Zeit man noch hat. Bis 94 Jahren bin ich dann gereist und gewandert: In Italien, Griechenland, Israel und Ägypten. Italienisch und Griechisch habe ich gelernt und fotografieren. Mich hat das fit gehalten, diese Neugier auf das Fremde. 30 000 Dias gab es von meinen Reisen. Als ich hier in das Zimmer ins Pflegeheim gezogen bin, habe ich meine Tochter angerufen und gesagt: „Entsorgen.“ Das tat mir in der Seele weh. Jetzt habe ich nur noch 80 Hefter im Regal, in denen ich meine Reisen genau dokumentiert habe. Wenn ich in den Berichten blättere, leben die Urlaube vor meinem inneren Auge.

Ist es nicht sehr schwierig, all das loszulassen, was einem wichtig war und das Leben auf die paar Quadratmeter des Zimmers zu reduzieren?

Jagdmann: Klar ist das nicht einfach, aber es trennt sich auch das Wichtige vom Unwichtigen. Am Ende bleibt die Essenz des eigenen Lebens: Die Bilder von den Lieben an der Wand. Von den langen Regalreihen Bücher daheim ist eine übrig geblieben. Dazu die Reiseberichte und noch eine Regalreihe Ordner, in denen ich Erinnerungen abhefte: Briefe, die Geburtsanzeigen der Enkel und Urenkel. Ich liebe die handgeschriebenen Briefe, die mir mein 25-jähriger Enkel Felix schickt, in denen erzählt er mir, was er gerade macht. Dazu noch ein paar Kassetten mit klassischer Musik. Das war also mein Leben.

Noch schwieriger stelle ich mir vor, dass das Altwerden – erst recht, wenn man über 100 wird– doch bedeutet, zurückzubleiben und sich immer wieder von lieben Menschen lösen zu müssen, die sterben.

Tetem: Ich habe so viel Tod erlebt. Ich habe meiner Mutter mit 17 beim Sterben die Hand gehalten. Ich habe meine Tochter mit 77 Jahren verloren, 1992 meinen Mann. Man gewöhnt sich nie daran und irgendwie doch. Wenn ich abends im Bett liege, sind sie alle wieder da, meine Tochter, mein Mann. Dann läuft der Film meines Lebens vor mir ab. Das ist schön.

Jagdmann: Mein Leben ist ein Aneinanderreihen von Abschieden. Das ist das Schwierigste am Altwerden. Manchmal möchte ich, dass Gott mich ruft, weil es so einsam um einen wird. Meine Frau habe ich vor zwei Jahren verloren und alle Freunde sind nicht mehr da. Dazu kommt die zunehmende Einschränkung durch den Körper. Dabei möchte man einfach mal schnell raus an den Rhein. Es ist eine tägliche Übung im Akzeptieren und Loslassen. Dann versuche ich, da mit Verstand und Disziplin ranzugehen: Ich sage mir, du hast es zig Jahre gut gehabt und verbiete mir, wehleidig zu werden. Ich bin unendlich dankbar für dieses Leben. Es ist aber auch wichtig, gut mit sich selbst auszukommen.

Haben Sie Angst vor dem Sterben?

Michels: Also ich überhaupt nicht. Man lebt, um zu sterben. Ich habe meinen Mann 1950 verloren an Krebs. Wenn die Zeit gekommen ist, dann ist es eben so. Manchmal denke ich, wenn du heute Nacht stirbst, wäre das okay.

Jagdmann: Ich würde auch sagen nein. Ich habe meine Mutter sterben sehen, Freunde und meine Frau. Ich gehe nicht in ein unbekanntes Land. Ich glaube fest an ein Weiterleben an den Tod.

Tetem: In den Himmel kommen, ist für mich ein Märchen. Ich sterbe, werde beerdigt und Feierabend. Mir ist nur total wichtig, dass ich nicht kremiert werde. Deshalb habe ich schon für meine Beerdigung gespart, weil das ja teurer ist. 6000 Euro. Damit müsste mein Sohn hinkommen. Dann möchte ich zu meinem Mann auf den Friedhof nach Niehl. Und jetzt hätte ich gern bitte noch einen Kaffee.

Wären Sie gerne noch mal jung?

Michels: Nein, ich nicht. Klar haben wir in einer schwierigen Zeit gelebt. All der Tod und die körperliche Arbeit. Aber irgendwie ist das für die jungen Leute heute schwieriger, ohne dass ich sagen könnte, wie ich das meine. Die Jungen haben keine rosigen Zeiten zu erwarten. Ich spüre in mir, dass es unruhige Zeiten sind. Das gefällt mir nicht. Ich schaue täglich die Nachrichten und kann mich über den Trump (US-Präsident Donald Trump, d. Red.) so richtig empören. Der macht doch der Jugend die ganze Zukunft kaputt.

Walter Jagdmann: Mir geht es ähnlich und ich bin froh, dass ich hier in meinem Refugium sitze und die Stürme nicht mehr so erleben muss. Ich beneide die Jugend nicht. Immer mit den Modeströmen mitzugehen, das ist auf die Dauer anstrengend und trägt nicht.

Haben Sie ein Handy oder surfen im Internet? Energisches Kopfschütteln bei allen dreien. Walter Jagdmann übernimmt die Antwort.

Walter Jagdmann: Daran hatte ich nie Interesse. Ich habe immer lieber etwas gründlich gemacht als vieles oberflächlich.

Was ist für Sie heute Glück?

Minna Tetem: Für mich ist Glück, mich auf meinen Geburtstag zu freuen. Im Dezember werde ich 103. Und von den 200 Euro, die ich zur Verfügung habe, spare ich jeden Monat etwas für eine kleine Feier. Und dann lade ich alle zum Kaffeetrinken ein. Meinen Sohn, meine Enkel und Urenkel.

Jagdmann: Glück ist für mich zufrieden zu sein, mit dem was ich bin und habe. Und ich freue mich auf Weihnachten, weil ich es liebe, kleine Freuden zu machen. Ich liege schon jetzt manchmal im Bett und überlege, wen ich Weihnachten wie beschenke.

Das Gespräch führte Alexandra Ringendahl

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