SexismusFrau, nicht Freiwild – Zeit für ein Ende der Bagatellisierung

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Köln – Wildfremde Männer, die uns in der Öffentlichkeit zwischen die Beine greifen. Onkel, die uns vor versammelter Familien-Mannschaft begrapschen, um zu begutachten, ob aus dem Mädchen eine Frau geworden ist. Chefs, die unerfahreneren – männlichen – Kollegen das begehrte Projekt zuschustern: Diese Szenen sind weder erstunken und erlogen noch maßlos übertrieben oder mächtig konstruiert.

Es ist nur eine kleine Auswahl all der Übergriffe, die wir im Laufe unserer Biografie als Frau erlebt und von denen wir uns im Kolleginnen-Kreis erzählt haben. Die nicht immer strafrechtlich relevant, aber stets verletzend, verunsichernd, verängstigend waren. Und nervend. Die wir irgendwann aufgehört haben zu zählen, weil wir dickfellig wurden. Denn sie passierten, ganz egal, wie wir uns verhielten, wie wir uns kleideten oder an welchem Ort wir uns gerade aufhielten. Vielleicht auch, weil wir die Schuld bei uns suchten, weil wir dachten in der jeweiligen Situation zu höflich, offen oder feige, anschließend zu verschämt und verschlossen gewesen zu sein. Aus Angst davor, unser Umfeld hätte das übergriffige Verhalten als Bagatelle und verletzende Kommentare als Komplimente heruntergespielt. Und nicht als das behandelt, was es ist: sexualisierte Gewalt.

Gegen das Wegschauen

Zu persönlich, was die da erzählen – das sind doch intime Einzelschicksale – denken Sie? Höchst gesellschaftlich relevant – sagen wir! Und erzählen davon weder aus einem späten Rachegefühl, noch aus verjährter Reue über eine nie erstattete Anzeige, und auch nicht, weil wir über Nacht einer radikal-feministischen Gruppe beigetreten wären. Wir tun es, um den alltäglichen Sexismus sichtbar zu machen, ihn aus der Tabuzone herauszuholen – und damit vielleicht einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, das Thema Sexismus als ein gesellschaftliches Problem zu begreifen. Die Kölner Silvesternacht 2015 – vor unserer Haustüre – und jetzt der Harvey-Weinstein-Skandal – jenseits des Ozeans – haben auf drastische Weise gezeigt, was Studien und Statistiken längst belegen: Belästigungen und sexualisierte Gewalt sind mehr als individuelle Entgleisungen oder Privatsache, sie gehören zum Alltag von Mädchen und Frauen.

Frauen schildern ihre Erlebnisse aus dem Alltag

Caroline Kron, 47 Jahre

A. Hohenzollern, 22 Jahre

Jasmin Krsteski, 37 Jahre

Victoria Jebens, 22 Jahre

Ina Henrichs, 44 Jahre

Andrea Kreitz, 52 Jahre

Nach einer Untersuchung des Familienministeriums ist jede dritte Frau in Deutschland von sexualisierter und/oder körperlicher Gewalt betroffen. Jede siebte erlebt strafrechtlich relevante Formen, wird vergewaltigt oder sexuell genötigt. Hochgerechnet kommt man so auf 160.000 Übergriffe jährlich – Belästigung und Vergewaltigungsdrohungen im Internet nicht mitgerechnet. Zum Schaden jedes einzelnen Opfers – und der Gesellschaft. Sexualisierte Gewalt hat für betroffene Frauen erhebliche Auswirkungen auf die körperliche wie seelische Gesundheit, auf die familiären und sozialen Beziehungen und auf ihren Job.

Gewalt, eine teure Angelegenheit

Neben den persönlichen Folgen verursacht sexualisierte Gewalt hohe ökonomische Kosten für die Gesellschaft: Von einem Durchschnittswert von jährlich rund 180 Euro pro Kopf geht der Europarat aus, für die Bundesrepublik bedeutet das etwa 14,5 Milliarden Euro pro Jahr – die der Staat für Polizeieinsätze, Ermittlungsverfahren, Gerichtsverhandlungen, Prozesskostenhilfen, Strafvollzug, medizinische Behandlungen, Therapien, Frauenhäuser oder Interventionsstellen berappen muss. Eine großangelegte EU-Untersuchung ergab, dass es von sexueller Belästigung zu sexueller Gewalt nicht weit ist. In einer Gesellschaft mit vielen Fällen sexueller Belästigung gibt es auch viele Vergewaltigungen. Wo obszöne, beleidigende Kommentare und vermeintliche Witze toleriert werden, kommt es also häufiger zu sexueller Gewalt.

Scham, Scheu, Beweisprobleme

Jeden Tag geschehen in Deutschland laut Kriminalstatistik 20 Vergewaltigungen – knapp 8000 pro Jahr. In dieser offiziellen Erhebung kann jedoch nur erfasst werden, was auch angezeigt wird. Immer wieder befragt die Polizei deshalb anonym Bürger, um die Diskrepanz zwischen tatsächlich stattgefundenen und polizeilich erfassten Straftaten zu ermitteln. Eine solche Dunkelfeldstudie für Niedersachsen etwa zeigt: Nur sieben Prozent der Sexualdelikte werden angezeigt. Bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist die Dunkelziffer also erschreckend hoch. Andere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis: Im Bundesdurchschnitt zeigen nur fünf von 100 Frauen, die eine versuchte oder eine stattgefundene Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung erlebten, diese Tat auch an. Und in nur 8,4 Prozent der angezeigten Fälle erlebt eine Frau die Verurteilung des Täters.

Gründe dafür, dass die Bereitschaft vergewaltigter Frauen, die Tat anzuzeigen, seit Jahrzehnten auf niedrigem Niveau stagniert und die Zahl der Verurteilungen beharrlich sinkt, gibt es mehr als an zehn Fingern abzuzählen wären. Lösungen damit auch. Viel wäre erreicht, wenn – flankierend zur Reform, die den Grundsatz des „Nein heißt Nein“ im Sexualstrafrecht verankert – ein Nach- und Umdenken in der Gesellschaft stattfände. Denn der Anteil derer, die die Schuld intuitiv bei den Opfern sucht oder anderen „Vergewaltigungsmythen“ aufsitzt, ist nach wie vor sehr groß. Das ist deshalb fatal, weil diese falschen Vorstellungen – wann eine Vergewaltigung als solche bezeichnet werden kann, welchen Einfluss das Opfer auf den Tatverlauf hat oder wie sich Traumata äußern – erheblichen Einfluss auf die Rechtsprechung haben können.

Falsche Bilder im Kopf

Dass sie nicht selten eine effektive Strafverfolgung verhindern und die juristische Urteilsfindung meist zuungunsten der Geschädigten beeinflussen, darüber sind sich Experten, die sich der Opferhilfe verschrieben haben, einig – seien es Traumaforscher und -berater, Psychologen oder Rechtsanwälte.

Solange ein Großteil der Gesellschaft, Politiker und Strafverfolgungsorgane nicht angemessen auf sexualisierte Gewalt reagieren, werden es die meisten Opfer auch nicht tun können. Viele von ihnen stellen aufgrund der nicht totzukriegenden Mythen selbst infrage, dass die Gewalt, die ihnen angetan wurde, schlimm genug war, um als Straftat zu gelten. Wenn sie aus Scham, Scheu und Beweisproblemen auf eine Anzeige verzichten, verwundert es auch nicht, dass geschätzte 90 Prozent der Täter straflos davonkommen.

Die Social-Media-Kampagne #ichhabnichtangezeigt, bei der 1121 betroffene Frauen teilgenommen haben, ergab: 27,71 Prozent der Opfer von sexualisierter Gewalt sehen Grenzüberschreitungen als normal an. 28,57 von ihnen wissen nicht, dass man „Nein“ sagen, sich wehren darf. 42,42 Prozent wussten gar nicht, dass das, was ihnen widerfuhr, sexualisierte Gewalt war – Gründe genug, die Vergewaltigungsmythen ins Visier zu nehmen.

Mythen über Tatbilder, Schuld und ideales Verhalten

Mythos Nr. 1: Das typische Tatbild

Hand aufs Herz: Was verstehen Sie unter einer „richtigen“ Vergewaltigung? Haben Sie dabei dieses Bild im Kopf: Ein Wildfremder überfällt nachts eine Frau an einem verlassenen, gefährlichen Ort, sagen wir im Park, und zwingt sie mit Drohungen oder massiver Gewalt zu sexuellen Handlungen? Mit dieser Vorstellung sind Sie nicht alleine – liegen aber völlig falsch. Denn dieser Mythos ist in der Forschung seit mindestens drei Jahrzehnten überholt. Tatsache ist: Frauen erleben 70 Prozent der polizeilich erfassten Übergriffe in der eigenen Wohnung – die Dunkelziffer ist weitaus höher. Täter und Opfer sind also verwandt oder gut bekannt. Folglich müssen diese Täter kaum Gewalt anwenden. Doch genau dies – Gewalt – mussten Opfer bis zur Reform des Sexualstrafrechts im Sommer 2016 vor Gericht nachweisen, damit die Tat als Vergewaltigung galt.

Mythos Nr. 2: Das Opfer ist schuld

Zweiter Selbsttest: Glauben Sie insgeheim, dass Aussehen und Verhalten des Opfers ausschlaggebend sind für die Tat? Dass nur junge, attraktive Frauen oder solche, die einen kurzen Rock, einen tiefen Ausschnitt oder andere vermeintlich aufreizende Kleidung tragen, zu sexuellen Übergriffen anspornen? Dann glauben Sie an einen weiteren Mythos, der Ursache und Wirkung vertauscht und die Überzeugung beinhaltet, dass Opfer sexueller Vergehen provozieren, indem sie sich in eine gefährliche Situation begeben – trampen, flirten, enge Kleidung tragen oder einen Mann in ihre Wohnung einladen. Im Endeffekt also irgendwie selber schuld sind und eine Vergewaltigung die Konsequenz ihres Verhaltens ist.

Der Film „Angeklagt“ aus dem Jahr 1988 mit Jodie Foster in der Hauptrolle hat diesen Mythos brutalstmöglich zerlegt. Sämtliche internationale Studien zeigen: Jedes Mädchen und jede Frau kann unabhängig von ihrem Alter, ihrem Aussehen, ihrer Kleidung, Nationalität oder Religion Opfer einer Vergewaltigung werden. Es gibt kein Verhalten, das eine Vergewaltigung rechtfertigen könnte. Es gibt leider auch keines, das sie ausschließen kann.

In eine ähnliche Kategorie fällt die Vorstellung, dass das Vorleben des Opfers eine Rolle spiele und eine sexuell aktive Frau, die schon mehrere Partner hatte, es im Grunde genommen ja selbst gewollt und nicht besser verdient habe. Sie gibt quasi, wie auch eine Betrunkene, ihr Recht ab, über ihren eigenen Körper bestimmen zu dürfen. Und Prostituierte? Können, so die irrwitzige Vorstellung, aufgrund ihres Status gar nicht vergewaltigt werden.

Mythos Nr. 3: Das ideale Verhalten

Denken Sie, eine Frau, die „richtig“ vergewaltigt wird, reagiert quasi instinktiv mit Gegenwehr oder Flucht? Wenn nicht, hat sie damit ihr stillschweigendes Einverständnis gegeben? Damit unterstellen Sie Opfern eine Handlungsmacht, die psychologische und soziologische Erkenntnisse ignoriert. In der Psychologie ist es kein unbekanntes Phänomen, dass Opfer sich der Gewalt fügen, in der Hoffnung, weniger Gewalt erleiden zu müssen. Auch Reaktionen wie Bewegungsunfähigkeit und Widerstandslosigkeit sind belegt. Kurz: Flucht ist keine natürliche Reaktion. Und was die bislang per Gesetz geforderte Gegenwehr betrifft, kritisieren Soziologen, dass die in der Regel nicht der Sozialisation vieler Frauen entspricht, in der Gegenwehr als unangemessen gilt. Warum wird dann erwartet, dass sie sich ausgerechnet im Fall einer Vergewaltigung wie Amazonen verhalten?

Mythos Nr. 4: Falschanzeigen

Halten Sie bitte ein letztes Mal inne: Sind Sie der Meinung, dass viele Frauen einen Mann fälschlicherweise einer Vergewaltigung beschuldigen – aus Sorgerechtsgründen, Rache, Fantasie, oder um sich in den Mittelpunkt zu spielen? Und dass das Gesetz Männer davor schützen muss? Keine Frage, eine Falschaussage kann eine Existenz zerstören. Der Fall Kachelmann ist noch in Erinnerung. Doch laut „Deutschem Juristinnenbund“ sind Falschanschuldigungen in Bezug auf sexualisierte Gewalt im Vergleich zu anderen Straftaten mit rund drei Prozent äußerst selten – Fehlurteile damit auch. Berücksichtigt man zudem, dass von den geschätzten rund zehn Prozent angezeigter Vergewaltigungen nur knapp zehn Prozent in einer Verurteilung enden, relativiert sich das Thema Falschanzeigen – ebenso wie durch die Tatsache, dass das deutsche Sexualstrafrecht aufgrund seiner Schutzfunktion vor ungerechtfertigter Strafverfolgung zwangsläufig eher täterorientiert ist. Was wiederum das Selbstverständnis der beteiligten Institutionen – Polizei, Staatsanwaltschaft, Strafgerichte – prägt.

Demgegenüber gehört das Recht des Opfers auf „Wiederherstellung seiner leiblichen und seelischen Gesundheit“, wie es im Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten steht, nicht primär zu den Aufgaben und zum Selbstverständnis dieser Organe.

Es wäre zu kurz gegriffen, töricht und unfair, das aus diesen Mythen resultierende Verhalten aller Beteiligten – der Opfer selbst, ihres privaten Umfelds, der Behörden und der breiten Öffentlichkeit – als bösen Willen, Inkompetenz oder Unwissen abzutun. Deren Reaktionen, also die Tendenz, dem Opfer selbst die Schuld zuzuschreiben – statt sie als eine schutz- und hilfebedürftige Person anzuerkennen – lassen sich laut Traumaexperten, zurückführen auf psychologisch tief verwurzelte Tendenzen, uns mit dem kaum zu ertragenden Schicksal von Gewaltopfern nicht näher befassen zu wollen.

Um unbewusst unser bedrohtes Sicherheitsgefühl zu verteidigen, dessen zentralste Bedrohung der Gedanke ist: Das kann mir auch passieren!

Statt realistische Überlegungen zuzulassen, Angst zu ertragen und Mitgefühl zu zeigen, suchen wir die Ursache der Tat in einer Besonderheit der Situation oder der Persönlichkeit des Opfers, das sich dann in einer gefährlichen Gegend, zu einer ungünstigen Tageszeit, leichtsinnig verhalten hat.

Eine Frage der Einstellung

Gewalt als Unrecht zu verstehen heißt, sie nicht als Handlungszwang der Täter hinzunehmen, nicht als schicksalhaftes Verhängnis der Opfer. Dieses Bewusstsein in unser aller Köpfe zu verankern wäre ein erster Schritt. Ein zweiter wäre ein gesellschaftlicher Konsens über deren Ächtung. Wenn Frauen begrapscht, mit obszönen Sätzen oder schlechten Witzen gedemütigt werden, ist das keine Bagatelle, sondern eine Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte. Auch ein Verständnis von Sexualität als gegenseitig gewolltes Erlebnis könnte helfen. Ausnahmen: keine. „Ja, heißt Ja, statt Nein heißt Nein“.

Was ist Ihnen widerfahren? Schreiben Sie uns: Kölner Stadt-Anzeiger, 50590 Köln E-Mail: ksta-leserbriefe@dumont.deFax: 02 21/2 24-25 24 (Bitte alle Zusendungen mit kompletter Anschrift)

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