UnfallforschungLkw-Fahrer schalten Notbremshilfe ab und nehmen Unfälle in Kauf

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Lkw-Unfall

Archivbild eines Lkw-Unfalls auf der A 61 von Erftstadt in Richtung Köln

  • Eine neue Studie sagt: Bis zu 80 Prozent der Crashs am Stauende wären durch technische Hilfen vermeidbar.

Köln/Münster/Berlin – Donnerstag, 26. Oktober 2017: Nach einem Auffahrunfall bei Ascheberg mit einem lebensgefährlich verletzten Lkw-Fahrer ist die A 1 in Richtung Dortmund am Mittag für mehrere Stunden gesperrt worden. Ein Lkw war zwischen den Anschlussstellen Ascheberg und Hamm-Bockum/Hövel in einen vorausfahrenden Lastwagen gefahren. Der Fahrer des hinteren Lastwagens wurde im Führerhaus eingeklemmt und kam mit lebensgefährlichen Verletzungen in ein Krankenhaus.

Unfälle dieser Art sind Alltag in Deutschland. Das gilt in besonderem Maße für den Kölner Autobahnring. Etwa am Montag, 13. März 2017: Ein Lkw-Fahrer (61) aus Rumänien übersieht gegen 17 Uhr auf der A 1 drei Kilometer hinter der Abfahrt Burscheid das Stauende auf der rechten Spur und prallt ungebremst auf einen Sattelzug. Rettungskräfte können ihn nur noch tot bergen. Dreieinhalb Stunden ist die Autobahn gesperrt.

Zahlen zu Unfällen mit Sattelzügen

2586

Unfälle verschuldeten im Jahr 2016 die Fahrer von Lastwagen allein in Nordrhein-Westfalen.

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Mehr als 60 Prozent

aller Unfälle zwischen Lastwagen und Radfahrern könnten durch elektronische Abbiegeassistenten im Lkw verhindert werden.

Rund 300

Auffahrunfälle verursachen Lkw-Fahrer  am Stauende auf den deutschen Autobahnen pro Jahr. 

Fast 500

Menschen sterben pro Jahr auf Deutschlands Straßen bei Unfällen mit Sattelzügen.

Mehr als 3200

Menschen werden jährlich bundesweit bei Unfällen mit Sattelzügen schwer verletzt.

Rund 25 Prozent

der Lkw auf deutschen Autobahnen sind mit einem Notbrems-Assistenten unterwegs.

Bei 702

Unfällen mit Sattelzügen im Jahr 2016 in NRW wurden 18 Menschen getötet und 216 schwer verletzt.

Die Polizei versucht alles, um das Chaos auf den 529 Autobahnkilometern, für die sie im Regierungsbezirk Köln zuständig ist, in den Griff zu bekommen – mit Tempolimits, die durch Radaranlagen überwacht werden, mit verstärkten Streifenfahrten. Vor dem Kreuz Leverkusen ist die Zahl der schweren Unfälle zurückgegangen, seit Tempo 100 gilt und geblitzt wird.

Mehr als 500 Tote pro Jahr bei Unfällen mit Sattelzügen

Pro Jahr sterben auf Deutschlands Straßen bei Unfällen mit Sattelzügen fast 500 Menschen, mehr als 3200 werden schwer verletzt. In NRW verschuldeten im Jahr 2016 die Fahrer von Sattelzügen 702 Unfälle, bei denen 18 Menschen getötet und 216 schwer verletzt wurden. Nimmt man nicht nur die Sattelzüge, sondern fasst alle Lastwagen zusammen, waren es in NRW 2586 Unfälle mit 49 Toten und 492 Schwerverletzten. Und das sind nur die Fälle, in denen der Lkw-Fahrer als Hauptverursacher gilt. Rund drei Jahre hat die Unfallforschung der Versicherer (UDV) , ein Institut des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft mit Sitz in Berlin, das Unfallgeschehen mit schweren Lkw untersucht und am Donnerstag in Münster eine Analyse vorgelegt. Das Ergebnis ist verblüffend. „Viele dieser Unfälle wären mit den heute schon verfügbaren technischen Maßnahmen vermeidbar oder würden zumindest glimpflicher ablaufen“, sagt Forschungsleiter Siegfried Brockmann. Die Forscher haben drei häufige Konstellationen mit besonders schweren Folgen ermittelt.

Problem 1: Sattelzüge fahren ungebremst ins Stauende.

Bundesweit kommt es auf Autobahnen jährlich zu etwa 300 Auffahrunfällen am Stauende mit Schwerverletzten und Getöteten. Bei einer Untersuchung in Brandenburg kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass Crashs am Stauende rund ein Fünftel aller schweren Lkw-Unfälle und 30 Prozent der Getöteten ausmachen.

„Wir können das nicht wissenschaftlich belegen, aber diese Zahlen lassen sich durchaus auf ein Transitland wie NRW übertragen“, sagt Brockmann. Sattelzüge seien häufiger im Interkontinentalverkehr unterwegs. „Vor allem Fahrer aus Osteuropa sind sehr lange unterwegs, übermüdet und haben in der Regel kaum Mittel, vernünftig zu übernachten. Sie schlagen sich mit ihrem Gaskocher durch die Welt. Der ideale Fahrer ist ausgeschlafen, guckt nie auf sein Smartphone, macht keine Abrechnungen und schneidet sich auch nicht die Fußnägel am Steuer. Aber leider gibt es den nicht.“

In der Unfall-Datenbank für Brandenburg habe man festgestellt, dass bei den meisten Auffahrunfällen gar nicht oder zu spät gebremst wurde. „Wir müssen die Wirksamkeit der Notbremssysteme deutlich erhöhen“, sagt Brockmann. Der Notbremsassistent ist seit 2015 bei Neuzulassungen vorgeschrieben. Rund 25 Prozent der Lkw, die auf deutschen Autobahnen unterwegs sind, dürften nach Schätzungen des UDV damit ausgerüstet sein.

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Das System warnt den Fahrer, wenn er zu dicht auffährt und bremst den Lkw automatisch um zehn Stundenkilometer herunter. Ab 2018 sind 20 Kilometer vorgeschrieben. Das System kann aber vom Fahrer abgeschaltet werden, um bei Überholvorgängen möglichst dicht auffahren und Schwung holen zu können. „Dafür gibt es keinen Grund, höchstens einen rein dogmatischen.“ Das Wiener Übereinkommen über den Kraftfahrzeugverkehr von 1968 schreibe vor, dass der Fahrer jederzeit die Herrschaft über das Fahrzeug haben soll. „Nur deshalb hat man den Abschaltknopf eingeführt. Das ist Unfug.“ Die Unfallforscher fordern, dass sich das Notbremssystem zumindest nach 30 Sekunden automatisch wieder einschaltet. Zudem müsste die Technik so verbessert werden, dass sie ein stehendes Hindernis rechtzeitig erkennt und der Aufprall vermieden wird, da der Lkw von selbst zum Stillstand kommt.

Problem 2: Pkw und Kleinlaster rasen mit hoher Geschwindigkeit in schwere Lastwagen, die vor ihnen herfahren.

Die Forscher haben festgestellt, dass Übermüdung, Ablenkung und zu geringer Abstand immer wieder zu schweren Auffahrunfällen von Pkw oder Kleintransportern auf Lkw führen. In Brandenburg haben etwa ein Viertel aller schweren Unfälle diese Ursache. Die Folgen sind auch deshalb so schwerwiegend, weil der Unterfahrschutz am Heck eines Lkw nicht stabil genug konstruiert werden kann. Knautschzone und Airbag eines aufprallenden Fahrzeugs allein reichen nicht, um den Fahrer zu schützen“, sagt Brockmann. „Einem Aufprall von mehr als Tempo 40 hält der Unterfahrschutz nicht stand.“ Deshalb müsse auch für Pkw und Kleinlaster der Notbremsassistent zur Pflicht werden. „Darüber hinaus müssen wir den Fahrern bewusst machen, dass Übermüdung und Ablenkung durch Smartphones und andere Dinge tödlich sein können.“ 330 Unfälle mit Getöteten und Schwerverletzten ließen sich verhindern.

Problem 3: Lkw-Fahrer übersehen Radler.

Etwa 28 Unfälle mit getöteten und 160 mit schwer verletzten Radfahrern könnten vermieden werden, wenn es einen elektronischen Abbiege-Assistenten im Lkw gebe, der den Fahrer warnt, dass ein Radfahrer neben seinem Wagen steht, heißt es in der Studie. „Der Assistent könnte mehr als 60 Prozent aller Unfälle zwischen Lkw und Radfahrern verhindern.“ Die Fachleute schlagen vor, den Assistenten auch für Lkw in der Bau- und Entsorgungswirtschaft einzuführen, die mehr als die Hälfte der Unfälle mit Radfahrern verursachen. Als Übergangslösung müssten Lastkraftwagen mit einem Kamera-Monitor-System nachgerüstet werden. In Einmündungen müssten Radwege laut UDV direkt an der Fahrbahn geführt werden.

„Die Kommunen können eine ganze Menge tun und die Sichtbeziehungen verbessern“, sagt Brockmann. Fahrer von Sattelzügen hätten trotz aller Spiegel und Bildschirme beim Abbiegen erhebliche Probleme. „Wenn er anfährt und abbiegt, knickt beim Sattelzug das Führerhaus ab. In dem Moment hat er den Radweg gar nicht mehr komplett im Blick, und es wird zum Lotteriespiel, ob er jeden Radfahrer auch sieht. Das schafft der beste Abbiegeassistent nicht.“ Deshalb müssten die Radler im Zweifel besser warten, bis der Lkw abgebogen ist. „Das wird von den Radfahrer-Verbänden immer wieder kritisiert. Die sagen, man dürfte Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Ich kann nur immer wieder sagen: Der Moment, in dem der Radfahrer das Führerhaus umkurvt, ist der riskanteste.“

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