AutismusKarls musikalische Reise aus dem Kokon

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Musikalische Annäherung: Der fünfjährige Karl Weißmann (Name geändert) mit Musiktherapeutin Iris Diepers-Pérez

Musikalische Annäherung: Der fünfjährige Karl Weißmann (Name geändert) mit Musiktherapeutin Iris Diepers-Pérez

Karl (Name geändert) sitzt völlig aus dem Häuschen hinter dem kleinen roten Schlagzeug. Seine Arme wissen gerade ganz genau, was sie tun. Und seine Mimik verrät, wie selten, was in seinem Inneren vor sich geht: Begeisterung durch und durch. Nicht immer hat der Fünfjährige seine Arme unter Kontrolle. Dann flattern sie wie die Flügel eines Falters – oder schlagen wild um sich. Und häufig kann sein Gesicht nicht mehr erzählen als ein leeres Blatt Papier.

Probleme mit dem sozialen Miteinander

Karl ist Autist, lebt wie geschätzte 15 bis 40 von je 10 000 Kindern in Deutschland mit dieser tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Und damit oft in seiner eigenen Welt. Wie in einem Kokon. In dem zwischenmenschliche Beziehungen und Veränderungen keinen Platz haben. In dem, frei nach Tucholsky, Lärm das Geräusch der anderen ist. Wenn es sich nicht gerade um den Sound seiner Musiktherapeutin handelt. Lieder liebt Karl.

Einmal pro Woche ist er für zwei Stunden zu Besuch bei Iris Diepers-Pérez im Autismus Therapie Zentrum (ATZ) in Weidenpesch – einer von sechs Therapieeinrichtungen des Autismus Köln/Bonn e.V. , das in Köln 480 Kinder und Jugendliche betreut, 610 sind es insgesamt. Die Musiktherapeutin hilft Karl dabei, seine eigenen Gefühle, und die der anderen, wahrzunehmen, gemeinsames Spielen positiv zu erleben, von sich aus Kontakt aufzunehmen und zu lernen, mit Veränderungen im Alltag umzugehen.

Dort lauern überall unangenehme Überraschungen für Karl. Während „normale“ Menschen – plakativ ausgedrückt – über eine 50-Liter-Tonne verfügen, mit der sie Reize aufnehmen und filtern, haben Menschen mit Autismus Reagenzgläser. Wenn die voll sind, brauchen die Betroffenen Pausen von der für sie allzu lebendigen Welt. Dann ziehen sie sich in ihre Welt zurück oder verlieren die Kontrolle, schreien, schlagen, treten.

Jede Grimasse ein Geheimcode

Die Regeln des sozialen Miteinanders und die Kontrolle über die eigenen Gefühle wie eine Fremdsprache zu büffeln, Gefühle und Stimmungen der anderen wie eine Geheimschrift zu entschlüsseln, jede Grimasse, jede krause Stirn wie einen Code zu knacken – das ist extrem anstrengend für Karl, für sein engstes Umfeld und manchmal sonderbar für Fremde.

„Doppelt unsichtbar“ nennt der Kölner Psychiater Kai Vogeley das Problem vieler Autisten im zwischenmenschlichen Umgang. Denn zum Einen sind ihre Einschränkungen für Außenstehende meist nicht direkt sichtbar. Hinzu kommen die Probleme vieler Betroffener, Mimik und Gestik zu deuten – was deren Gesprächspartnern nicht bewusst ist und deshalb zu Missverständnissen führt – und Frustration bei den Betroffenen.

Diagnose, die vom Himmel fiel

Was auf manch einen sonderbar und störend wirken mag, nennt Karls Mutter „authentisch und anders“. Anders war Karl von Beginn an. „Wir wussten schon während der Schwangerschaft, dass etwas nicht normal verläuft“, sagt Tanja Weißmann (Name geändert). Karl wuchs langsam, wog in der 40. Woche nur 2,2 Kilo, kam per Kaiserschnitt zur Welt und verbrachte auch anschließend viel Zeit in Kliniken. „Karl hatte kein Babygesicht, wirkte ungewöhnlich erwachsen, sehr ernst“, erinnert sich Tanja Weißmann an eine Zeit, in der der Begriff Autismus noch nicht zu ihrem Wortschatz gehörte. Lange bevor die Diagnose „vom Himmel auf uns herabfiel“. Tanja Weißmann und ihr Mann Alberto (Name geändert) glaubten lange, dass Karls verzögerte körperliche Entwicklung den vielen Klinikaufenthalten geschuldet sei – und die sprachliche Entwicklung der Dreisprachigkeit, mit der Karl aufwächst. Mutter Tanja spricht überwiegend Russisch mit ihm, Vater Alberto Spanisch, und beide auch mal Deutsch.

Nach einigen epileptischen Anfällen, etlichen Ergo- und Logopädie-Sitzungen, und der Erkenntnis der Erzieherinnen, dass alles das, was anderen Kindern Spaß macht (laute Geräusche, viel Bewegung, wechselnde Beschäftigung), für Karl zum Albtraum wird, suchen Weißmanns Rat im ATZ – und erhalten die Diagnose „frühkindlicher Autismus“.

Mühsam lernen im Gesicht zu lesen

Genau ein Jahr ist das her. Ein Jahr, „in dem Karl durch intensives Training große Fortschritte gemacht hat“, sagt die Mutter, und zählt auf: Karl hat zu sprechen und mit anderen Kindern zu spielen gelernt. Er kann sich alleine anziehen und auf die Toilette gehen, ist emotional stabiler und immer häufiger in der Lage, die Gefühle anderer von ihrem Gesicht abzulesen.

Trotz aller Erfolge: Vieles wird Karl immer wieder neu lernen müssen. „Alltägliche Handlungsabläufe, wie Anziehen oder Zähneputzen, die andere Kinder ohne Kraftakt lernen“, sagt Diepers-Pérez, „routinieren sich bei vielen Kindern mit Autismus nicht und müssen über auf sie abgestimmte Motivationsreize langfristig geübt werden.“ Eines der Ziele des Musikprojekts, das auch von „wir helfen“ unterstützt wird, ist es deshalb, Kindern mit Autismus zu helfen, die Herausforderungen des Alltags zu meistern – und ihnen einen reichen Schatz an Ausdrucksmöglichkeiten zu geben. Schließlich ist es ein großes menschliches Bedürfnis, sich mitteilen zu können und verstanden zu werden. „Sich miteinander abzustimmen, ist die höchste Kunst im guten Kontakt – und beim gemeinsamen Musizieren“ , sagt Diepers-Pérez. Wer Karl eine Weile im Musikraum des ATZ beobachtet, merkt schnell: Er drückt mit Schlagzeug, Gitarre und Gesang nicht nur seine Gefühle aus, er interagiert und kommuniziert auch mit seiner Therapeutin. Wenn er singend die Kletterwand besteigt, und stoppt, wenn sie verstummt, damit sie weiter singt. Wenn er sanft auf das Schlagzeug-Becken schlägt, weil sie am Klavier gerade leiser wird. Wenn er summend in ihren Gesang einstimmt und damit seinen Frust über die verstopfte Murmel in der Kugelbahn beschwichtigt.

Herausforderungen des Alltags meistern

„Ich versuche aufzugreifen, was Karl interessiert, und sein Erleben im Spiel zu teilen“, sagt Diepers-Pérez, „um etwas Gemeinsames zu entwickeln“. Mal geht es ums Laut- oder Schnell-Sein, dazu ein „Tamtam“ aus vollem Hals. Mal sind es kleine Abenteuergeschichten, die die beiden gemeinsam singen oder spielen. Ziel ist ein Miteinander, das Spaß macht.

Darüber hinaus lernt Karl im ATZ die Herausforderungen des Alltags zu meistern – und seine Eltern tun es auch. „Die enorme Unterstützung, die autistische Kinder brauchen, die klaren Regeln und Tagesabläufe, ihre wechselnde Verfassung, und nicht zu vergessen: der Umgang des Umfelds mit dem Anderssein der Kinder belastet häufig die gesamte Familie“, sagt ATZ-Geschäftsführerin Carmen Wöhler. Weshalb das ATZ viele Unterstützungsangebote für Familienmitglieder bereithält – von der ambulanten Erziehungshilfe, über Selbsthilfegruppen bis hin zum betreuten Wohnen. „Unser großes Anliegen ist es, Eltern und Betroffene dabei zu unterstützen, sich gegenseitig emotional zu stärken und ihnen immer wieder zu vermitteln: Autismus ist nicht heilbar, aber positiv beeinflussbar.“ Bester Beweis: Karl, wie er strahlend auf die Pauke haut.

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