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Dritter Zug beteiligtKette des Versagens löste Unglück von Meerbusch aus

Lesezeit 5 Minuten
Links die Lok des Regional-Express, rechts der teilweise entgleiste Güterzug,

Links die Lok des Regional-Express, rechts der teilweise entgleiste Güterzug,

Meerbusch – Fehlerhafte Absprachen zwischen den Fahrdienstleitern auf zwei Stellwerken entlang der Strecke von Neuss nach Krefeld haben zu dem schweren Zugunglück geführt, bei dem am vergangenen Dienstag in Meerbusch 41 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Nach Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ waren an dem Unfallgeschehen nicht nur zwei Züge, sondern ein weiterer beteiligt. Zu diesen Erkenntnissen dürfte die Bundesstelle für Eisenbahnunfall-Untersuchungen nach ihren bisherigen Auswertungen bereits gekommen sein.

Die Ausgangslage

Der Zugverkehr auf dem Abschnitt zwischen der Abzweigung Weißenberg hinter dem Neusser Hauptbahnhof und dem Haltepunkt Meerbusch-Osterath wird von zwei Fahrdienstleitern auf zwei Stellwerken gesteuert. Einer sitzt im Stellwerk Weißenberg, der andere im wenige Kilometer entfernten Stellwerk Osterath.

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Es ist 19.28 Uhr, als der RE 7 von Köln nach Krefeld den Neusser Hauptbahnhof verlässt. Wenige Minuten später muss er am Abzweig Weißenberg in Höhe des Stellwerks anhalten, weil das Signal auf Rot steht. Der Grund: Im Gleisabschnitt vor ihm steht ein Güterzug der DB Cargo auf dem Weg von der Dillinger Hütte im Saarland nach Rotterdam – ebenfalls vor einem Rotsignal vor der Einfahrt in den Haltepunkt Osterath. Der Gleisabschnitt vor ihm ist nicht frei. Auf ihm fährt gerade ein anderer Güterzug durch den Bahnhof Osterath.

Die Nachfrage

Der Lokführer des Regional-Express 7 ruft per Bahnfunk den Fahrdienstleiter auf dem Stellwerk Weißenberg an, will von ihm wissen, warum er vor dem Rotsignal warten muss. Im Normalfall läuft der Zugbetrieb auf dieser Strecke automatisch ab. Die Signale erkennen jeden Zug und schalten auf Grün, jedoch nur unter der Bedingung, dass der Gleisabschnitt davor frei ist. Das ist an diesem Abend nicht der Fall.

Der Lokführer des Regionalzugs informiert deshalb die Reisenden in seinem Zug über den Zwangsstopp. Er teilt ihnen mit, dass er auf eine Freigabe warte. Der Fahrdienstleiter im Stellwerk Weißenberg schaut auf das Gleispult vor ihm und sieht, dass das Gleis vor „seinem“ Regionalzug durch einen Güterzug blockiert ist. Er setzt sich mit seinem Kollegen auf dem nächsten Stellwerk in Osterath in Verbindung, um Informationen einzuholen. Wann wird der Güterzug diesen Abschnitt verlassen?

Die Antwort

Das könne doch gar nicht sein. Der Abschnitt sei längst frei. Das erweist sich als ein Irrtum. Der Fahrdienstleiter im Stellwerk Osterath hat den wartenden Güterzug wohl nicht auf dem Schirm. Die Behörden müssen jetzt ermitteln, ob der Fahrdienstleiter in Osterath diesen Güterzug mit dem vorausfahrenden Güterzug verwechselt hat oder ob es eine technische Störung gab. Das kann nach dem bisherigen Stand der Untersuchungen nicht vollends ausgeschlossen werden. Im Stellwerk Weißenberg versucht der Mitarbeiter daraufhin, „seinem“ Regional-Express 7 grünes Licht zu geben. Das klappt natürlich nicht. Die Sicherheitssysteme greifen, melden den Gleisabschnitt als belegt. Das Signal lässt sich deshalb nicht umschalten.

Der Fahrbefehl

Nach den Recherchen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ erteilt der Fahrdienstleiter dem Lokführer des Regional-Express 7 daraufhin einen Fahrbefehl. Das ist ein ziemlich aufwendiges Unterfangen. Der Befehl muss auf einem eigens dafür vorgesehenen Formular schriftlich ausgefüllt, per Bahnfunk an den Lokführer geschickt werden. Bevor der überhaupt losfahren darf, muss er den Vorgang ebenfalls schriftlich in einem vergleichbaren Formular niederlegen. Genau das geschieht. Der Fahrdienstleiter in Weißenberg gibt dem Lokführer zwei Befehle: Erstens: Fahren Sie am Hauptsignal vorbei, obwohl es Rot zeigt. Zweitens: Fahren Sie auf Sicht, das bedeutet mit maximal Tempo 40, aber nur so schnell, dass Sie jederzeit vor einem Hindernis anhalten können. Anschließend gibt er die Strecke frei. Der Regional-Express setzt sich in Bewegung.

Warum sich der Fahrdienstleiter auf dem Stellwerk Weißenberg nicht noch einmal bei seinem Kollegen auf dem Stellwerk Osterath rückversichert hat – bist du ganz sicher, ist der Abschnitt frei, kann ich davon ausgehen, dass es sich um eine Signalstörung handelt? – diese Frage müssen die Ermittler der Bundesstelle für Eisenbahnunfall-Untersuchungen klären.

Der Aufprall

Der Lokführer des Regional-Express sieht auf der Strecke plötzlich den Güterzug vor sich, leitet sofort eine Schnellbremsung ein. Die Schlussscheiben eines Güterzugs sind in aller Regel unbeleuchtet, also nur schwer zu erkennen. Der Personenzug ist offenbar nicht sehr schnell unterwegs. Kurz vor dem Aufprall bekommt der Güterzug vor ihm grünes Licht, weil der Abschnitt vor ihm im Bahnhof Osterath, in dem ja ein vorausfahrender Güterzug unterwegs war, frei geworden ist. Auch ein unbeladener Güterzug braucht natürlich Zeit, bis er Fahrt aufgenommen hat. Dass er nicht mehr steht, ist ein glücklicher Zufall für die rund 180 Menschen an Bord des RE 7 von National Express. Wäre der Triebwagen auf den stehenden Zug geprallt, hätte das schlimme Folgen haben können.

Die Fragen

Hat der Fahrdienstleiter auf dem Stellwerk Osterath den zweiten Güterzug übersehen? Oder ihn mit dem vorausfahrenden verwechselt? Hat es zusätzlich technische Probleme gegeben? Auf zweigleisigen Strecken wie zwischen Neuss und Krefeld können Züge normalerweise nur rechts fahren. Die Fahrdienstleiter müssen deshalb nur alle Züge melden, die sie losfahren lassen. Sobald der Zug in den nächsten Gleisabschnitt wechselt, wird das im Stellwerk auf dem schematischen Gleisbild angezeigt. Die Meldung kann auch automatisch erfolgen – durch eine sogenannte Zugnummern-Meldeanlage.

Auf dem Stelltisch leuchtet die Zugnummer dann automatisch auf. Ist das nicht der Fall, darf man nicht einfach von einer technischen Störung ausgehen, sondern muss grundsätzlich auf dem Nachbar-Stellwerk nachfragen. Alle Zugnummern werden zur Dokumentation ausgedruckt – auf einer Rolle, die Kassenbons ähnlich ist.

Das Problem

Nach Recherchen unserer Zeitung hatten die Fahrdienstleiter auf den Stellwerken in Osterath und Weißenberg wenig Erfahrung. Sie sind Quereinsteiger, die nach einer Umschulung zur Bahn gewechselt sind. Das dauert fünf bis sechs Monate, die normale Ausbildung in der Regel drei Jahre.

Ein Insider sagt, dass dies bei Routineabläufen unproblematisch sei, es bei komplexen Situation schnell zu Überforderungen komme, weil Quereinsteiger das System Bahn nicht von Grund auf gelernt hätten. Die Bahn wirbt aus Personalmangel seit ein paar Jahren verstärkt um Quereinsteiger – auch bei Lokführern.

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