Solingen – Das Haus der Familie Genç, nur wenige Kilometer vom Anschlagsort entfernt, ist von hohen Mauern geschützt. Auf einem Monitor im Wohnzimmer sind Straße und Bürgersteig zu sehen, die Kamera läuft 24 Stunden am Tag. „Die Kamera“, sagt Mevlüde Genç, „gibt uns ein Gefühl der Sicherheit.“ Das Wohnhaus kommt wie ein Hochsicherheitstrakt daher, anders geht es wohl nicht.
Solingen ist Heimat
Gegenüber der Kamera befindet sich eine Fotowand – Porträts der Familie mit deutschen und türkischen Würdenträgern, Johannes Rau ist dabei, Armin Laschet, ein Porträt des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und eines des ehemaligen Präsidenten Abdullah Gül. Auf dem Wohnzimmertisch stehen Gebäck und Tee, auf der Couch sitzt Mevlüde Genç und sagt, was sie bewundernswerter Weise seit 25 Jahren sagt, ein Vertrauter der Familie übersetzt es: „Wir sind in Solingen geblieben, weil Solingen unsere Heimat ist. Ich lebe länger in Deutschland als in der Türkei.“
„Ich bete dafür, dass wir alle gute Menschen sind, verzeihen können und tolerant sind.“
„Ich spüre keinen Hass. Es waren Einzeltäter, nicht die Deutschen.“ Sie redet auch über ihren Schmerz, sagt: „Ich empfinde ihn seit 25 Jahren jeden Tag gleich stark.“
Mevlüde Genç hat das Bundesverdienstkreuz erhalten, sie hat als von der CDU vorgeschlagene Delegierte an der Bundesversammlung teilgenommen, die Joachim Gauck zum Bundespräsidenten gewählt hat. Armin Laschet hat Genç in einem Beitrag für ein deutsch-türkisches Journal als „beeindruckendste Frau, der ich je begegnet bin“, bezeichnet. Auch in der Türkei gilt Frau Genç als Kämpferin für Toleranz.
Große Fremdschäm-Momente
Mevlüde Genç, die immer mal wieder zum Monitor guckt, der die Bilder von der Straße zeigt, sagt, sie sei dem deutschen wie dem türkischen Staat dankbar „für die Anteilnahme an unserem Leid“. Für ihre Familie sind Anteilnahme und Politik zweierlei – umgekehrt ist das gewiss nicht immer der Fall.
Helmut Kohl war der offiziellen Trauerfeier für die Mordopfer 1993 ferngeblieben. Der Verweis seines Sprechers Dieter Vogel, Kohl habe „weiß Gott andere wichtige Termine“, fiel zwar nicht im Zusammenhang mit dem Brandanschlag von Solingen, sondern mit der ebenso grausamen Tat wenige Monate später im norddeutschen Mölln, bei der zwei türkische Mädchen und ihre Großmutter umkamen. Auch Vogels unseliges Wort vom „Beileidstourismus“, an dem man sich nicht beteiligen wolle, fiel erst in diesem Zusammenhang.
Doch Kohl machte sich Vogels Diktion durch seine Abwesenheit zu eigen. Er erschien nach der Tat nicht nur in Solingen nicht, sondern blieb auch dem Trauerakt Ende November für die Toten von Mölln fern. Zudem redete er den Anschlag von Solingen als Tat „asozialer Elemente“ klein. Von Rechtsextremismus oder Neonazis keine Rede.
Es war einer der größten Fremdschäm-Momente seiner Kanzlerzeit – Politiker wie Johannes Rau oder Armin Laschet versuchten später mit ihrem Mitgefühl auch, dem Schaden von Kohls Worten entgegenzuwirken.
Im Wohnzimmer hängt das Porträt von Erdogan neben jenem von Johannes Rau. „Ich interessiere mich nicht für Politik“, sagt die 75-Jährige. Während Mevlüde Genç redet, sitzt ihr Mann Durmus neben ihr, nickt ab und zu, und schweigt. Auf einer Couch im Hintergrund hört ihr Sohn Bekir zu. Bekir war 15, als er von den Flammen fast verbrannt worden wäre. Wie viele weitere Familienmitglieder hatte er lebensgefährliche Verletzungen erlitten – 24 Operationen retteten ihm das nackte Leben.