NachrufVom Aufstieg und Fall eines Helden: Olympiasieger Fredy Schmidtke

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Fredy Schmidtke nach dem Olympiasieg in Los Angeles im Jahr 1984 (r.) und vor seinem Arbeitsplatz (l.)

Fredy Schmidtke nach dem Olympiasieg in Los Angeles im Jahr 1984 (r.) und vor seinem Arbeitsplatz (l.)

Köln – Vom ersten Radrennen bis zum Olympiasieg in Los Angeles braucht Fredy Schmidtke 14 Jahre und einige hundertausend Kilometer auf dem Sattel. Von „Gold-Fredy“, einem deutschen Helden, der in Talkshows herumgereicht wird und vor Zehntausend Bewunderern durch seinen Heimatort Worringen weht, zum vorgeblichen „Fett-Fredy“, dem ein Reporter ein Glas Champagner aufdrängt, um die Szene in einem zynischen Artikel zu verwursten, bedarf es nur weniger Monate.

Ein Jahr nach dem Olympiasieg ist er nicht mehr im Nationalkader. Bis zur Insolvenz seines Sportgeschäfts dauert es 18 Monate. Irgendwann kann er kaum noch laufen. Selten ist ein deutscher Ausnahmesportler tiefer gefallen als Fredy Schmidtke.

Hochzeit mit der Jugendliebe

Den Absturz finden viele Journalisten – auch solche, die die Jubelfotos der Familie vor dem Fernseher schon Stunden vor dem Olympia-Rennen im Worringer Wohnzimmer schießen wollen und von Schmidtkes Vater hinausgejagt werden – noch interessant. Gerüchte über ein Gigolo- und Spieler-Leben machen an Tresen und in Gazetten die Runde – „das war alles erstunken und erlogen, während Journalisten von Bordellbesuchen schrieben, saß Fredy hier zu Haus und hat Monopoly gespielt, er war nie der Sunnyboy, zu dem ihn die Journalisten machten“, erinnert sich seine Frau Brigitte.

Kurz nach dem Olympiasieg heiratet er seine Jugendliebe. Wie ihr Mann trotz multipler Niederschläge immer wieder aufsteht, taumelnd, am Ende seiner Kräfte, fluchend, zerbeult, mit künstlichen Kniegelenken und zu vielen Kilos, aber nie zynisch, nie klagend, sondern mit mit jungenhaftem Glanz in den Augen nach dem nächsten Strohhalm greifend, interessiert bald keinen mehr.

Urlaub mit dem E-Bike

Zuletzt hat er sich, gezeichnet von einer Stoffwechselerkrankung und arthritischen Knochen, mal wieder aufgerappelt. Fredy Schmidtke fährt regelmäßig Rennrad, spielt Tennis, nimmt stark ab. Zwei Wochen vor seinem Tod fährt er auf Gran Canaria mit seinem früheren Nationalmannschaftskameraden Christian Goldschagg Rad – E-Bike, aber immerhin. „Es ging ihm richtig gut“, sagt Brigitte Schmidtke, „leider war es wie ein Gesetz in seinem Leben, dass er wieder unter Wasser gezogen wurde, sobald er gerade wieder nach Luft schnappen konnte“.

Fredy Schmidtke vor seinem Arbeitsplatz

Fredy Schmidtke vor seinem Arbeitsplatz

Seit er neun ist und sein erstes Rennen gewinnt, sitzt Fredy Schmidtke meistens auf dem Rad. Mit zwölf trainiert er so viel, „dass seine Kindheit eigentlich vorbei war“, sagt sein erster Trainer Hans-Josef Heinz. „Sein Vater hat ihn knallhart trainiert, man kann sich so eine Kindheit für den Sport als Außenstehender kaum vorstellen“, sagt Fredys Onkel Heinz-Josef Schmitz. Mit 23 ist er vielfacher Deutscher Meister, Weltmeister und Olympiasieger im 1000-Meter-Zeitfahren. Der schnellste Radfahrer der Welt. Er ist jetzt „Gold-Fredy“, „unser Gold-Junge“, „der Mann mit den goldenen Beinen“, ein deutscher Vorzeigesportler, der bei der WM 1982 in Leicester sogar die Konkurrenz aus Russland und der DDR besiegt hat. „Die Schinderei“, sagt Schmidtke mit der Medaille um den Hals in Los Angeles, „hat sich gelohnt.“

Schmidtke hat keine Medienberater wie heute fast jeder bekannte Sportler. „Er war naiv und gutgläubig“, sagt seine Frau. Gegenüber einem Reporter beschwert er sich darüber, dass es im Olympischen Dorf kein Bier gebe, seinen Sieg will er „mit zwei, besser drei Flaschen Champagner begießen“, schreibt die „Bild“. Journalisten brauchen ihn nur anzutippen, und Schmidtke redet sich um Kopf und Kragen. „Jetzt beginnen die goldenen Zeiten“, „Ich will mir jetzt nicht mehr allen möglichen Stress aufhalsen“, „ich lebe nicht nur für den Sport“, so wird er gleich nach dem Olympiasieg zitiert.

Oder, als Antwort, warum er nicht an Sechs-Tage-Rennen mit 5.000 Mark Gage pro Nacht teilnehme: „Die Leute in der Halle saufen und amüsieren sich mit der Freundin und ich soll arbeiten.“ „Er sagte, was er dachte“, sagt sein Onkel Heinz-Josef Schmitz. Und nach Olympia dachte er: Ich lasse mir nicht länger diktieren, wie ich zu leben habe.

„Er hat sich nichts anmerken lassen“

Schon in den Wochen nach Olympia wird getuschelt, am Tresen in Worringen und bei der Konkurrenz auf dem Sattel, die sich an den verbalen Ausflügen Schmidtkes labt und sich über seine Leibesfülle lustig macht. „Fredy hat das Gerede nichts ausgemacht, nur die Geschichte mit dem Champagner, die hat er dem Journalisten übelgenommen“, sagt seine Frau. Nichts ausgemacht, wirklich? Er hat sich zumindest nichts anmerken lassen und weiter gesagt und gemacht, was er wollte. Doch was will einer, der mit 23 alle Lebensziele erreicht hat?

Schmidtke kauft sich nach dem Olympiasieg einen Sportwagen und macht in Worringen ein Sportgeschäft auf. Schon die Einrichtung des Ladens kostet dreimal so viel wie geplant. Bekannte hatten ihm zu dem Laden geraten, auch zum teuren Kirschholzinventar, „irgendwelche Leute haben ihm Flöhe ins Ohr gesetzt, und Fredy, der nicht nur naiv, sondern auch stur war, hat es gemacht“, sagt Brigitte Schmidtke beim Kaffee im Wohnzimmer der 76-Quadratmeter-Wohnung in Zons, in dem sie seit 1981 mit Fredy lebte. „Plötzlich stand ich allein da. Ich hatte von nichts Ahnung, weil ich vorher ja nur auf dem Rad gesessen hatte“, sagt Schmidtke später einem „Spiegel“-Journalisten.

Am liebsten Zuhause

Brigitte lernt Fredy in einer Disko in Worringen kennen, nach dem Tanzen fährt er sie nach Hause. Sie reden wenig, verabreden sich aber zum Eisessen. Irgendwann sind sie ein Paar. Bis Brigitte erfährt, dass Fredy einer der besten Radfahrer des Landes ist, dauert es drei Monate. Da sagt er ihr, dass er ins Trainingslager muss, drei Wochen weg sein wird.

Das Wegsein war schwer für Schmidtke, er war am liebsten zu Hause, aber an mehr als 200 Tagen im Jahr weg. „Mich hat das Radfahren nie besonders interessiert, für ihn war es ein Job, er wollte das nicht so hochhängen, aber es war nicht nur ein Traumjob“, sagt Brigitte Schmidtke. Einmal habe Fredy seinen Vater, der mal wieder über Rennplanung und Training sprach, angeschrien: „Jetzt hör’ endlich mal auf, über das Scheißradfahren zu reden!“

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Viele Hochleistungssportler sagen, für eine olympische Medaille würden sie zehn oder 15 Jahre ihres Lebens geben. Fredy Schmidtke hätte das nie gesagt. Er hätte auch nie wissentlich gedopt und seinen Körper damit geschädigt, dafür war ihm der Erfolg nicht wichtig genug, sagen Weggefährten wie sein Nationalmannschaftskollege Dieter Giebken – wissend, dass es auch damals um fast alle Topfahrer Dopinggerüchte gab. Schmidtke und Giebken werden zusammen Vize-Weltmeister im Tandem-Fahren, sind aber auch Konkurrenten.

Schmidtke qualifiziert sich bei der Deutschen Meisterschaft 1984 nicht nur im 1000-Meter-Zeitfahren für Olympia, sondern auch im Sprint, in einem knappen Rennen gegen Giebken. Bei Olympia wird Schmidtke Achter in Giebkens Spezialdisziplin. „Unsere Wege haben sich dann getrennt, ich wurde Berufsradfahrer, Fredy machte sein Geschäft auf. Ich habe nie gehadert, Fredy schon“, sagt Giebken. „Als wir uns 30 Jahre später trafen und unsere Freundschaft wieder aufnahmen, fragte er mich, ob ich ihm je verziehen hätte, dass er mir bei der Deutschen Meisterschaft nicht den Vortritt überlassen habe.“

Schon vor Olympia keine Lust mehr

Schon vor den Olympischen Spielen spricht Schmidtke immer Mal wieder davon, dass er keine Lust mehr auf die Schinderei auf dem Rad hat. „Aber so, wie wir alle ab und zu sagen, keine Lust mehr auf unsere Arbeit zu haben“, sagt seine Frau. Als Schmidtke den Sportladen eröffnet, glaubt er, dass die Fans jetzt bei ihm einkaufen werden. Doch es kommt, wie er später feixt: „Ich habe morgens einen Squashball verkauft, mittags wurde es dann etwas ruhiger.“

Als er nach eineinhalb Jahren einen riesigen Schuldenberg angehäuft hat, ist Brigitte schwanger mit dem ersten Sohn. „Kein guter Zeitpunkt“, sagt Brigitte Schmidtke, „aber wir haben alles getan, damit unseren Kindern nichts fehlt.“ Das ist keine Floskel. Fredy Schmidtke fängt als Schichtarbeiter bei der Bayer-Tochter EC Erdölchemie an und macht parallel eine Ausbildung zum Chemikanten, eine Woche Früh- , eine Woche Spät-, eine Woche Nachtschicht, die freie Woche arbeitet er durch, um die Schulden abzustottern. Am Ende verdient er 4.500 Mark netto im Monat und zahlt mehr als die Hälfte zurück an die Bank.

Er hat es mal wieder geschafft – und lässt sich weiter nicht reinreden. Auch dann nicht, wenn Freunde ihm raten, Pausen zu machen und mehr auf seine Ernährung zu achten. Schmidtke ist 56, als er seiner Frau am Morgen des 1. Dezember 2017 sagt, er habe schlecht geschlafen und lege sich nochmal hin. Auf Gran Canaria war er mal wieder gestürzt. Auf Krücken humpelt er zurück ins Bett. An diesem Tag steht Fredy Schmidtke, ein deutscher Sportheld, nicht mehr auf. Die Ärzte diagnostizieren als Todesursache Herzinfarkt.

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