„Keiner hat sich Sorgen gemacht“Tah über das WM-Debakel und seine Rolle bei Bayer 04

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Geht voran: Jonathan Tah (Mitte) beim Trainingsspiel der Werkself in Zell am See 

Zell am See – Herr Tah, hier in Zell am See sind es knapp 30 Grad, es ist ungefähr Halbzeit in der Sommervorbereitung. Wie sehr schlaucht das Trainingslager von Bayer 04?

Es geht. Ich finde es gut, wir geben Gas und sind alle gut drauf. Es macht Spaß, und wenn es Spaß macht, fällt es allen leichter. Wir können als Team auch noch enger zusammenrücken.

In den bisherigen vier Testspielen hat Leverkusen noch kein Gegentor kassiert. Sagt das etwas über die Form aus? Die Gegner waren allesamt kein richtiger Gradmesser.

Die Teams waren zwar unterklassig, aber nicht schwach. Die Vereine waren teilweise schon weiter in der Vorbereitung, deswegen waren es gute Tests. Da können wir zufrieden damit sein, dass die Null bislang immer stand.

Im Sommer hatten Sie rund fünf Wochen Urlaub. So viel Freizeit – das war nicht Ihr Plan.

Klar war es schade, dass ich nicht mit zur WM fahren durfte. Aber ich habe die Zeit bei der Nationalmannschaft im Trainingslager in Eppan genossen und viel gelernt. Dass ich nicht im WM-Kader stand, motiviert mich nur noch mehr. Das nächste Mal will ich dabei sein.

Wie hat Bundestrainer Joachim Löw seine Entscheidung gegen Sie begründet?

Er hat mir nicht gesagt: „Du bist schlechter als die anderen.“ Im Gegenteil, er hat mir gesagt: „Du hast Gas gegeben, es hat mir gefallen, was du hier gemacht hast. Aber die anderen haben auch einen guten Eindruck gemacht.“ Es ist nun mal so, dass es auf der Position viel Konkurrenz gibt, die auch alle auf einem hohen Niveau gespielt hat. Das musste ich dann auch so akzeptieren. Das war okay.

Hätten Sie im Trainingslager schon erahnen können, dass die WM später so desaströs für Deutschland laufen würde?

Nein, das war eine Überraschung, auch für mich. Klar waren die Testspiele nicht so gut, aber das gab es vor anderen Turnieren auch schon. Deshalb hat sich wohl keiner so richtige Sorgen gemacht. Aber letztlich ist es so gekommen, und jeder hat daraus gelernt. Nächstes Mal wird es nicht so laufen.

Wie haben Sie die WM verfolgt?

Wie jeder auch, zu Hause vor dem Fernseher.

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Abkühlung: Jonathan Tah (r.) und Leon Bailey springen in den Zeller See.

Und wie kann man sich das vorstellen? Als Fan? Haben Sie nach Ballverlusten geflucht und auf den Tisch gehauen?

Als Fan nicht, nein. Man leidet eigentlich noch mehr mit, weil man lange dabei war und weiß, wie sich die Jungs fühlen. Das ärgert einen noch mehr, man ist noch emotionaler dabei.

Haben Sie nach dem WM-Aus den Kontakt zu den Teamkollegen gesucht?

Nee. Auch wenn ich einen solchen WM-Moment selbst noch nicht erlebt habe, weiß ich, wie man sich nach so Niederlagen fühlt. Da schreiben einem so viele Menschen. Das ist irgendwann zu viel. Deshalb habe ich sie in Ruhe gelassen. Irgendwann werde ich mit ihnen darüber reden, direkt danach war nicht der richtige Zeitpunkt.

Nach dem Turnier wurden einzelne Spieler als Sündenböcke hingestellt.

Ich sage immer: Man gewinnt und verliert als Mannschaft. Es macht keinen Sinn auf Einzelne zu gehen. Für mich ist es wichtig, dass, wenn von außen etwas kommt, die Mannschaft dann zusammensteht und es abprallt.

Aber genau das ist nach der scharfen Kritik an Mesut Özil nicht passiert. Da haben sich nur vereinzelt Teamkollegen vor ihn gestellt.

Vielleicht nicht in der Öffentlichkeit, dafür aber privat. Für mich ist es immer wichtiger, was drinnen passiert, wie es sich in der Kabine darstellt.

Im Sommer 2017 hat Sie eine Verletzung die Teilnahme an der U-21-EM gekostet. Den Titelgewinn mussten Sie vom Fernseher aus verfolgen. Wie lange hat das an Ihnen genagt?

Das war natürlich hart. Ich habe komplett alles verpasst, U-21-EM und Confed Cup. Aber ich glaube daran, dass meine Chance noch kommt, auch so einen Titel zu gewinnen. Deshalb lasse ich mich davon nicht runterziehen.

Zur Person

Jonathan Tah (22), geboren am 11. Februar 1996 in Hamburg, seine Mutter ist Deutsche, sein Vater stammt von der Elfenbeinküste. Die Karriere des Innenverteidigers begann beim Hamburger Klub Altona 93, 2009 wechselte Tah in die HSV-Jugend. Pflichtspiel-Debüt im August 2013, 2014 wurde er an Fortuna Düsseldorf verliehen. 2015 verpflichtete Bayer 04 ihn für 7,5 Millionen Euro.  92 Bundesliga-Spiele und drei Partien für die A-Nationalmannschaft. 2016 im EM-Kader, aber ohne Einsatz. 2018 im erweiterten WM-Aufgebot, dann von Bundestrainer Löw gestrichen. (ckr)

Also hat es Sie nicht aus der Bahn geworfen, binnen eines Jahres drei große Turniere auf den letzten Drücker verpasst zu haben?

Nein. Hätte mir mit 15 jemand gesagt, dass ich mit Anfang 20 überhaupt die Chance haben würde, bei so etwas dabei zu sein, hätte ich gesagt: Alles klar!

Für Bayer 04 ist es im Sommer auch nicht ganz nach Plan verlaufen. Sie spielen in der Europa League, nicht in der Königsklasse.

Wir hätten die Champions League schon früher klar machen können, haben es dann aber leider verpasst. Aber es wird immer gesagt: „Nur Europa League“. Man muss mal an die Saison davor denken, da mussten wir am Ende um den Klassenerhalt zittern. Dann war unser Ziel das internationale Geschäft, das haben wir erreicht. Und jetzt wollen wir nochmal eine Schippe drauflegen.

Also die Champions League?

Genau.

Wie sehen Sie die Mannschaft im Vergleich zum letzten Jahr?

Der Kader ist etwas breiter geworden, es sind gute Spieler dazukommen. Am wichtigsten ist aber, dass der Kern geblieben ist. Denn ich glaube, dass einige Spieler andere Optionen hatten – aber sie sind geblieben. Das  wird uns guttun.

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Jonathan Tah im Trainingslager

Welchen Eindruck macht Paulinho auf Sie?

Einen guten. Klar, er ist gerade erst 18 geworden, ist in einem neuen Land, einer neuen Kultur, er spricht die Sprache nicht. Aber er hat sich trotzdem gut eingebracht und integriert. Super ist, dass Wendell, Charles Aranguiz und Lucas Alario da sind – die können sich wenigstens mit ihm verständigen. Paulinho ist ein feiner Kerl.

Sie sind auch erst 22, sprechen aber schon so wie ein Führungsspieler. Fühlen Sie sich als solcher?

Ich trage Verantwortung, vielleicht mehr als andere 22-Jährige. Das wird auch von mir selbst so gefordert. Aber ein Führungsspieler muss für mich zu 100 Prozent einer sein. Daran arbeite ich.

In der vergangenen Saison hat Bayer 04 manchmal etwas die Balance zwischen Offensive und Defensive gefehlt…

… finden Sie?

Ja, ab und zu gab es einfache Ballverluste, Konter und Gegentore. Typische Fehler einer jungen, offensiven Mannschaft.

Manchmal standen wir vielleicht nicht kompakt genug, insgesamt war es aber in Ordnung. Aber, wie schon erwähnt, der Kern der Mannschaft ist noch zusammen, und wir werden uns weiter steigern. Man merkt es im Training: Wir sind heiß darauf, dass es wieder losgeht. Es kann eine sehr erfolgreiche Saison werden, wenn wir weiter so zusammenstehen.

Bayer 04 hat in Kai Havertz, Julian Brandt, Mitchell Weiser, Benjamin Henrichs und Ihnen mehrere junge DFB-Hoffnungen. Vielleicht den Kern der künftigen DFB-Elf?

Warum nicht? Es wäre schön, es so zu sehen. Es ist aber noch ein langer Weg. Ihr Können haben die Jungs jedoch schon aufblitzen lassen. 

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