Porträtserie „Lebenslinien“Brigitte Ullrich lebt seit ihrer Erkrankung bewusster

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Für ihre Kinder und Enkel, sagt sie, würde sie durchs Feuer gehen: Brigitte Ullrich, die seit 2013 in Kleinvernich lebt.

Für ihre Kinder und Enkel, sagt sie, würde sie durchs Feuer gehen: Brigitte Ullrich, die seit 2013 in Kleinvernich lebt.

  • „Lebenslinien“ heißt unsere Serie, die in unregelmäßigen Abständen Menschen aus dem Kreis Euskirchen vorstellt, die schwer erkrankt sind.
  • Diesmal stellen wir Brigitte Ullrich vor. Die 68-Jährige mit dem schönen Ruhrpott-Dialekt wurde im Sauerland geboren und wuchs in Halver auf.
  • 2016 bekam Brigitte Ullrich die Diagnose „Brustkrebs mit Knochenmetastasen“.

Kreis Euskirchen – Grundlage meiner positiven Lebenseinstellung ist ganz gewiss meine wirklich schöne Kindheit. Ich hatte einfach tolle Eltern! Sie waren ganz einfache Leute, nicht mit Geld gesegnet, aber dafür mit riesig großen Herzen. Mein Vater war im Hoch- und Tiefbau tätig, meine Mutter war Hausfrau und ging nebenher noch putzen.

Ich wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, die beiden zu belügen. Aber nicht, weil ich Angst vor ihnen hatte wie viele meiner Altersgenossen vor ihren Eltern, sondern weil sie meinen Geschwistern und mir vertrauten und uns unterstützten. Entsprechend selbstbewusst war ich wohl. In der Schule war ich oft Klassensprecherin, ich habe mich einfach gerne für andere eingesetzt. Nach der achten Klasse war für mich allerdings Schicht, nur die reichen Kinder konnten von der Volksschule auf die Realschule wechseln. Ich habe dann eine Lehre als Textil-Einzelhandelskauffrau gemacht. Als das Geld irgendwann knapp wurde, habe ich abgebrochen und bin ,auf die Fabrik’ gegangen, wie man bei uns sagte. Bei diesem Autozulieferer habe ich viele Jahre am Band gestanden, was ich eigentlich ganz schön fand.

Kind, dat schaffen wir schon

Mit 26 Jahren habe ich mein erstes Kind bekommen, unehelich. Das war nicht geplant, aber meine Eltern waren trotzdem nicht sauer. Meine Mutter hatte vorher zu mir gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, wenn so was passiert: ,Kind, dat schaffen wir schon, mach’ dir mal keinen Kopp. Wofür sind wir denn da?’ Ich weiß, wie viel Angst andere junge Frauen damals hatten, ungewollt schwanger zu werden.

Zehn Jahre nach Tanja habe ich 1986 noch Yvonne und 1989 dann Jenny zur Welt gebracht. Seit Anfang der 1990er-Jahre habe ich die Mädchen dann alleine großgezogen. Sie bedeuten mir wirklich alles. Die Verbindung zwischen einer Mutter und ihren Kindern ist schon etwas ganz Besonderes. Meine kleine Familie macht mich sehr glücklich, vor allem auch die Enkelkinder, die mittlerweile dazu gehören.

Hinter uns liegen ein paar schwere Jahre, in denen wir noch mehr zusammengewachsen sind. Das fing 2016 bei mir mit Hüftschmerzen an, die nicht mehr weggehen wollten. Ich war nie eine große Arztgängerin, war aber auch nie krank.

Diagnose Knochenkrebs

Nach einem dreiviertel Jahr bin ich dann doch mal zum Orthopäden, und dann kam der Stein ins Rollen. Bis zuletzt dachte ich, ich bräuchte nur eine neue Hüfte, aber nach dem MRT hieß es dann, ich hätte Knochenkrebs. Metastasen an der Wirbelsäule und beiden Beckenkämmen. Ich konnte das alles gar nicht begreifen, es ging nicht in meinen Kopf rein. Ich redete über diese Diagnose, als ob es ein Schnupfen wäre. Die Botschaft ’Krebs’ kam bei mir irgendwie nicht an.

Es stellte sich dann heraus, dass der eigentliche Tumor in der Brust saß. Dem rückte man mit Bestrahlungen zu Leibe, wochenlang, und das schlug auch gut an. Aber dann musste ich wieder ins Krankenhaus wegen weiterer Untersuchungen, und da hat’s mich dann voll erwischt. Ich bekam eine Blutvergiftung und obendrein eine schwere Lungenentzündung.

Mein ganzer Körper war einfach Matsch, total am Ende. In der folgenden Zeit haben die Ärzte mehr als einmal gedacht, dass ich es nicht schaffe. Meine Kinder haben jeden Tag stundenlang an meinem Bett gesessen.

Monatelang im Krankenhaus

Über vier Monate war ich im Krankenhaus, fünf Wochen davon auf der Intensivstation. Ich habe von alledem nichts mitbekommen. Ich habe einen gut viermonatigen Filmriss! Als ich wieder wach wurde, war ich ein Pflegefall. Ich hatte gar keine Muskeln mehr, konnte nichts mehr alleine machen. Trotzdem wollte ich so schnell wie möglich nach Hause.

Meine Töchter haben das dann ermöglicht, besorgten ein Pflegebett, einen Badewannenlift und alles weitere. Ich war überglücklich, als ich wieder in meinen eigenen vier Wänden war. Gleichzeitig hatte ich schlimme Schmerzen und das Gefühl, ein Wrack zu sein. Ehrlich gesagt, hatte ich damals öfter den Gedanken: Vielleicht wäre es besser, tot zu sein. Und natürlich habe ich Gott gefragt, warum er mir das alles antut. Mit ihm führe ich oft Zwiegespräche, sage ihm, wenn ich irgendwas nicht gut finde. Noch öfter bedanke ich mich aber bei ihm.

Mein Glaube hilft mir. Und auch manche Rituale. Zum Beispiel bekomme ich einmal im Monat eine Madonna vorbeigebracht. Die habe ich dann drei Tage zu Besuch, ehe ich sie wieder abgebe. Das gibt mir Hoffnung und die Kraft, mit der ganzen Situation klarzukommen, nicht zu jammern und zu klagen.

Schmerzen im Griff

Seit damals werde ich von einem Palliativmediziner betreut, der mich gut eingestellt hat. Ich futtere zwar einige Medikamente, habe dadurch die Schmerzen aber ganz gut im Griff. Es gibt gute und schlechte Tage, aber alles in allem geht es mir gut.

Das Schlimmste, was in der Zeit seit meiner Diagnose in meinem Leben geschehen ist, ist nicht meine eigene Krankheit. Meine Tochter Yvonne hat während der Schwangerschaft mit ihrer Tochter Ava selber eine Brustkrebsdiagnose bekommen. Das war furchtbar! Und das, wo sie gerade so viel Kraft brauchte: Bei ihrem Baby hatte man kurz zuvor Trisomie 21 festgestellt. Dazu hatte sie auch noch ihr Mann verlassen. Meine Tochter hat es wirklich knüppeldick abbekommen.

Ava wird bald zwei Jahre alt und ist ein solcher Sonnenschein! Wenn sie mir ihre kleinen Ärmchen entgegenstreckt, ist das das pure Glück. Auch mein Enkel Jon bringt so viel Freude in mein Leben. Einmal hat er Karten für ein Fußballspiel 1. FC Köln gegen Borussia Dortmund gewonnen. Und wen hat er mitgenommen? Die Oma. Zu seiner Mutter sagt er immer: ,Mit der Oma kann man immer so wunderbar Blödsinn machen!’ Jon wird bald zehn Jahre alt.

Eine Portion Konfetti

Und dann gibt es noch Isabell, die Tochter meiner Jüngsten, die gerade noch ein Baby erwartet. Sie leben in Lüdenscheid. Jede Woche schicke ich Isabell einen Brief. Da sind Kleinigkeiten drin und immer eine Portion Konfetti. Wenn der Brief angekommen ist, bekomme ich immer ein Foto von einer strahlenden Fünfjährigen. Das ist so schön!

Allein wegen der Kinder und Enkel kommt Sterben für mich gerade nicht infrage. Nein, im Ernst: Ich will die Kleinen noch eine Weile beim Großwerden begleiten dürfen. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit mir noch bleibt, aber wer hat das schon? Dem Tod bin ich schon einmal erfolgreich von der Schippe gehüpft. Was ich machen kann, tue ich: Gesund leben, auf meinen Arzt hören und mich nicht unterkriegen lassen. Ich glaube schon, dass Optimismus und eine positive Haltung Einfluss nehmen auf den Verlauf.

So eine schwere Krankheit verändert eine Menge! Die Verbindung zu meinen Kindern und den Kleinen ist noch inniger geworden. Insgesamt hat sich mein Denken und Fühlen gewandelt. Ich lebe viel bewusster, fühle intensiver. Ein schöner Sonnenuntergang kann mich tief berühren. Ich freue mich jeden Morgen über meine Blumen und das Gemüse, wie es wächst und gedeiht. Vielleicht ist das ein positiver Aspekt vom Kranksein – dass man seinen Blick für die kleinen Dinge so schärft.

Der Traum von einer Kreuzfahrt

Was ich noch gerne machen würde in meinem Leben? Abgesehen von viel Zeit mit meiner Familie verbringen? Ich würde wahnsinnig gerne einmal eine echte Kreuzfahrt machen. Hätte ich plötzlich viel Geld, wäre ich sofort ein halbes Jahr auf einem Schiff. Nur weil ich einen Rollator brauche, muss ich ja nicht zu Hause bleiben. Was ich auch unbedingt machen möchte: Zu einem Fußballspiel ins Stadion gehen. Am liebsten noch einmal Köln gegen Dortmund. Das wäre schön.

Jetzt wünsche ich mir erst mal, dass diese Pandemie endet. Corona hat mir schon vieles vermasselt. Ich bin im Weilerswister Kirchenchor und im Frauenverein. In beiden Gemeinschaften fühle ich mich sehr aufgehoben und geborgen. Proben und Treffen finden aber gerade nicht statt. Dafür halte ich per Telefon Kontakt zu den anderen, was dazu führt, dass ich manchmal stundenlang am Telefon sitze.

Porträtserie

„Lebenslinien“ heißt unsere Serie, die in unregelmäßigen Abständen Menschen aus dem Kreis Euskirchen vorstellt, die schwer erkrankt sind. Sie erzählen ihre persönliche Geschichte, halten Rückschau auf ihr Leben und schildern ihre Perspektive auf Wesentliches und Wichtiges.

Diesmal stellen wir Brigitte Ullrich vor. Die 68-Jährige mit dem schönen Ruhrpott-Dialekt wurde im Sauerland geboren und wuchs in Halver auf. Heute lebt die dreifache Mutter in Weilerswist-Kleinvernich. Sie ist dreifache Oma, im Oktober kommt ein weiteres Enkelkind dazu.

2016 bekam Brigitte Ullrich die Diagnose „Brustkrebs mit Knochenmetastasen“. Die Krankheit habe sie „total aus den Fugen gerissen“. Aber als geborene Optimistin habe sie sich zurück in ein Leben gekämpft, das ihr viele Glücksmomente beschere. Diese verdankt sie sowohl ihrer Familie, der Natur und guten Freunden als auch ihrem unerschütterlichen Humor. (hn)

Corona hat aber nicht alles nur zum Schlechten gewandelt. Ich finde, die Menschen gucken seither mehr nach links und rechts, sind liebevoller miteinander geworden. Wir haben seither eine aktive Nachbarschaft, wir stehen vor der Tür und reden, manche habe ich erst jetzt kennengelernt.

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Ich bin der Ansicht, man sollte sich im Leben auf die positiven Dinge konzentrieren. Man kann tatsächlich lernen, Negatives nicht so an sich heranzulassen, es zu verdrängen. Und man sollte sich immer bewusst machen, was die andere Seite der Medaille ist. Und die gibt es. Immer.

Ich hoffe sehr, dass Gott mich noch ein Weilchen hier unten lässt. Wenn es dann soweit ist, muss man es annehmen. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass wir uns alle da oben wiedertreffen. Das mag für manche Humbug sein. Für mich aber ist es ein sehr schöner, tröstlicher Gedanke. Einer, der mich aufrechterhält.

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