Jüdischer FriedhofArbeiten für die Ewigkeit

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Gärtner Erich Reichart arbeitet auf dem Friedhof in Köln-Deutz nach jüdischer Tradition.

Gärtner Erich Reichart arbeitet auf dem Friedhof in Köln-Deutz nach jüdischer Tradition.

Deutz – Wenn Erich Reichart im Morgenlicht zwischen den Grabsteinen wandelt und senst, sieht es so aus, als sei er mit dem Friedhof verschmolzen. Ein knorriger Baum, der pendelnd in der Landschaft steht. Mit Sense und seinem selbst gebautem „Bäumchen-Zupf-Gerät“ will Reichart des Dschungels auf dem Jüdischen Friedhof in Deutz Herr werden. Eine Sisyphosarbeit, an der er nicht verzweifelt. Der Hüne mit den guten Augen, den manche für einen widerspenstigen Vogel halten, ist glücklich hier. Die Ruhe des Friedhofs ist auf diesen Baum von einem Menschen übergegangen. Der Baum kann sprechen, er tut es gern. Reichart ist ein Menschenfreund, der für jeden ein Sprüchlein übrig hat – auch für den Tod. „Irgendwann wird es auch mich wohl erwischen“, sagt er an einem kühlen Sommermorgen, an dem er sich über die Tautropfen auf den Gräsern freut. „Bisher soll ja noch jeder gestorben sein. Also akzeptiere ich es. Sonst ängstigt man sich so, dass man zu leben vergisst, gell?“ Übrigens sei dies kein Ort des Todes, es sei „ein Haus des ewigen Lebens, so nennen die Juden ihre Friedhöfe“. 1941 ist hier zuletzt ein Mensch bestattet worden.

Erich Reichart ist nicht nur Friedhofsgärtner. Der 54-Jährige ist Holzfäller, Maschinenbauer, Botaniker und Zoologe, Friedhofsführer, Historiker, Sonnenbeobachter und Achtsamkeitslehrer. Er kennt sich aus mit Sensen und Wiesen, Zugmaschinen und Motorsägen, Psychrometern (Klimamessern), Sextanten und Theodoliten (Winkelmessern), Juden, Christen, Muslimen und Verwaltungsangestellten. Und ist so gutmütig, dass man ihm Wut kaum zutraut. Der Satz, in dem sich die Kritik kaum verstecken will, geht im Gezwitscher der Meisen fast unter. „Der Friedhof hier ist ein Kulturgut fast wie der Dom. Er könnte so wunderbar genutzt werden.“ Solche Kritik übt Reichart, weil er seinen Friedhof liebt. Er liebt die Pflanzen und die Tiere, die er bestimmt und kartiert, er liebt die Geschichten der Begrabenen und die Menschen, die kommen und fragen. Er ist zwar gern für sich, freut sich aber über die Leute vom Naturschutzbund, die die Nistkästen pflegen, über die Botaniker, die ein Biotop für wissenschaftliche Arbeiten finden, die Restauratoren, die Grabsteine sanieren, den Historiker, der jüdische Biografien erforscht. Zum Glück lasse die Kölner Synagogengemeinde dieses Leben zu – bei orthodoxen Juden sei der Friedhofszutritt oft verboten.

Ein Rotkehlchen singt auf dem Stein, unter dem ein Großonkel Heinrich Heines begraben liegt. „Du bist ganz zutraulich, gell“, sagt Reichart, „kommst immer, wenn ich arbeite.“ Manchmal plaudert er mit dem Rotkehlchen, manchmal grüßt er die Füchse. Bei denen sei es wie bei uns. „Die Alten sind scheu, die Jungen spielen gern.“ Er selbst hat mit Mitte 50 noch von beiden etwas. Der Lärm der nahen Verkehrsadern kann dem Friedhof nichts anhaben. Auch Reichart ist von diesem Getöse nie angesteckt worden. Beständig sucht er nach Möglichkeiten, dem Friedhof noch besser zu dienen. Dabei stößt er auf erwähnte Verwaltungsangestellte. Die Kenntnisreichen, aber auch die, die nicht einsehen können, dass ein Bäumchen-Zupf-Gerät Sinn macht, um der Verwilderung vorzubeugen und sagen, es lasse sich doch alles roden. Es gebe ferner solche, die wollen, dass er nur Gärtner sei, nicht Friedhofsführer oder Maschinenbauer, die sagen, er solle sich „auf seine Aufgabe konzentrieren“; er habe denen gesagt: „Ich mache nur Sicherheitsführungen.“

1695 erlaubte der Kölner Erzbischof und Kurfürst Clemens Josef, in Deutz einen jüdischen Friedhof zu errichten. „Erlaubte“, weil Juden nicht die gleichen Rechte wie Christen hatten. Sie durften nur bestimmte Berufe ausüben, aus vielen Gesellschaftsbereichen wurden sie ausgeschlossen. In Deutz gab es eine bedeutende jüdische Gemeinde, seitdem der Rat der Reichsstadt Köln es Juden anno 1424 „für alle Zeiten“ verbot, in Köln zu leben.

1698 fanden die ersten Bestattungen auf dem Deutzer Friedhof statt. Es ist damit der älteste jüdische Friedhof in Köln, seit 1928 gehört er der jüdischen Gemeinde Köln. Gepflegt wird die Ruhestätte seit den 1980er Jahren von der Stadt. Seit 1989 gilt der Friedhof als Denkmal.

1918 wurde der Friedhof geschlossen und der neue jüdische Friedhof in Bocklemünd/Mengenich eröffnet. Der Bocklemünder Judenfriedhof ist der einzige in Köln, auf dem noch beerdigt wird. Außerdem gibt es jüdische Friedhöfe in Mülheim, Lindenthal, Zündorf und Ehrenfeld.

Zwischen 1859 und 1882 durften die Grabstelen auf Anweisung der preußischen Militärbehörde nicht aufgestellt werden. Der Friedhof lag direkt neben einer Festungsmauer und damit in einer Schusslinie – die Grabsteine mussten liegen.

Zu den bekanntesten Grabstätten zählt jene der Bankiersfamilie Oppenheim. Therese Oppenheim, die hier begraben liegt, übernahm nach dem Tod ihres Mannes und Bankgründers Salomon Oppenheim nach dessen Tod 1828 die Bankgeschäfte. Die Oppenheims ließen die Synagoge in der Glockengasse bauen, gründeten die „Rheinische Zeitung“ (später „Neue Rheinische Zeitung“). Deren Chefredakteur war 1842/43 Karl Marx. Auch Michael von Geldern, ein Großonkel Heinrich Heines, fand auf dem jüdischen Friedhof in Deutz die letzte Ruhe. Beerdigt wurden in Deutz auch der Schriftsteller, Philosoph und Zionist Moses Hess, dessen sterbliche Überreste inzwischen nach Jerusalem überführt wurden, und der Kantor Isaak Offenbach, Vater des Komponisten Jacques Offenbach.

1983 wurden am Tag des Laubhüttenfests 63 Gräber zerstört.

1996 warfen Neonazis Grabsteine um und beschmierten sie mit Hakenkreuzen.

Jüdische Friedhöfe werden im Hebräischen als „Haus des Lebens“ oder „Haus der Ewigkeit“ bezeichnet. Friedhöfe gelten Juden als heilige Böden, sie gehören den dort Bestatteten und dürfen nicht aufgegeben werden. Gepflegt werden dürfen sie nur schonend – die Natur, Symbol des Lebens, muss gedeihen. Eine kommerzielle Nutzung der Pflanzen ist nicht gestattet. Regelmäßig werden Führungen über den Friedhof angeboten, der geöffnet ist, wenn Erich Reichart dort zwischen 8 und 16 Uhr arbeitet.

Nun also die Kritik, natürlich sanftmütig: „Was ich mir wünschen würde, wären mehr Ideen.“ Ein Verein, der bei der Pflege hülfe, ein Plan, der die Friedhofspflege auf 100 Jahre festschriebe, Sponsoren womöglich. Schließlich gehe es bei einem jüdischen Friedhof, auf dem die Gräber nicht eingeebnet werden dürfen, der bleiben soll im Einklang mit der Natur, nicht um ein paar Jahre, „sondern um die Ewigkeit“. Seine 20, 25 Jahre Arbeit seien da nichts. „Ich kann nur einen Anfang machen, und hoffen, dass langfristig geplant wird.“ Leider sei das Langfristige nicht mehr beliebt. „Wir können froh sein, dass die Stadt überhaupt so etwas macht. Es ist ja freiwillig.“ In den 1980er Jahren waren die Kassen noch gut gefüllt; die Stadt bot der jüdischen Gemeinde an, die gärtnerische Pflege zu übernehmen. Wenn Erich Reichart in Ruhestand geht, wird für dieses Zeichen der Freundschaft kein Geld mehr da sein. „Wir müssen uns mit der jüdischen Gemeinde Gedanken machen, wie es dann weitergeht“, sagt Reinhard Muck vom Grünflächenamt. Auch das Lebenswerk des Friedhofsgärtners steht dann auf dem Spiel. Erich Reichart trägt eine schiefe Brille, sein Haar ist zerzaust. Ein bisschen aus der Zeit gefallen sieht er aus, der Dialekt des gebürtigen Oberschwaben, der seit 25 Jahren in Köln lebt, verstärkt den ersten Eindruck, der so oft entscheidet und in die Irre führt. Die Schüler des Berufskollegs zischeln, als er während einer Führung die „Blümle“ vorstellt.

Spontan stellt man sich Erich Reichart als einsamen Menschen vor. Als Einsiedler, der sich auf einen Friedhof zurückgezogen hat. Geduldet, weil er gut arbeitet. Doch dieser Gärtner sprudelt vor Gegenwartsinteresse und Zukunftsideen. Er lebt für seine Arbeit, findet Sinn in ihr – und hofft, dass andere das Sinnvolle auch sehen. „Bevor Erich kam, ist hier immer alles plattgemacht worden, gemäht, gerodet, fertig“, erinnert sich der Geologe Hans Leisen, der seine Studenten auf dem Friedhof Grabsteine untersuchen lässt. „Der Erich hat vieles umgekrempelt, seit er vor zwölf Jahren herkam.“ Leisen ist eine Koryphäe seiner Zunft. Er hilft, die Tempeltänzerinnen in Angkor Wat zu restaurieren, vor Aufträgen kann er sich kaum retten. Reichart trifft er gern. „Dank Erich habe ich viel darüber gelernt, was es heißen kann, Friedhofsgärtner zu sein.“ Die Gedanken des Gärtners kreisen um Möglichkeiten, das Einfache im Komplizierten zu finden, Kultur und Natur auf dem Friedhof zu verbinden. Wenn er zwischen den Grabstelen steht und Ideen spinnt, erinnert er an einen Politiker ohne Publikum.

Sein Inneres hat der Friedhofsgärtner nicht aus dem Internet, das nutzt er höchstens, um Geräte zu bestellen. Ein Handy hat er, nutzt es aber kaum. Plastik verabscheut er, trinkt nur aus Glasflaschen. Dieser Mensch könnte auch vor 150 Jahren gelebt haben: Der industrielle und mediale Wandel haben ihm nichts anhaben können, das für sein Leben Wesentliche hat sich nicht verändert. Wesentlich ist in seinem Leben wohl auch die Einsamkeit – in der Ruhe des Friedhofs findet Reichart Glück, wie er sagt. Und will doch aus dieser Einsamkeit gerissen werden, sich mitteilen, (an)erkannt werden. Seine Beziehung zur Natur ist vielschichtig: Um die Grabsteine nicht zu gefährden, reißt er die Bäume mit seinem Bäumchen-Zupf-Gerät aus. Der Friedhof soll begehbar bleiben – gelegentlich kommt einer der wenigen Hinterbliebenen, um Steinchen auf ein Grab zu legen oder einen Grabstein restaurieren zu lassen. Reichart muss also Wege und Gräber vom Dickicht befreien, andererseits fühlt er sich der jüdischen Tradition verpflichtet, nur vorsichtig pflegend einzugreifen in die Friedhofsnatur. Das ruft Nörgler auf den Plan. „Natürlich gibt es die, die sich einen Friedhof ohne Unkraut vorstellen, aber mit so etwas können wir nicht dienen.“ Der Wind hat das Turmkraut gebeugt. Erich Reichart hütet es mit Habichtsaugen. „Es ist eine wichtige Nahrungsquelle für den Aurorafalter.“ Wichtig ist ihm „nicht so sehr das Seltene, sondern die Vielfalt. Aber das eine bedingt das andere“. Zu seiner Rechten steht die Grabstele von Moses Hess. „Hess hat den ersten deutschen Arbeiterverein gegründet“, sagt Reichart. Babyblau schimmert ein paar Meter weiter das Grab von Therese Oppenheim. „Sie übernahm vor fast 200 Jahren die Bankgeschäfte, als ihr Mann Salomon starb. Eine Frau als Chefbankerin – das wäre noch heute eine Sensation, gell?“

Für jüdische Geschichte interessiert sich Reichart, seitdem er als junger Mann nach Kanada ging und einen jüdischen Juwelier kennenlernte. Als er zurückkehrte, bewarb sich der Schwabe, der vom Lande stammt, auf eine Stelle in der Kölner Flora. Vor zwölf Jahren ergab sich die Möglichkeit, nach Deutz zu wechseln. „Da musste ich wissen, mit welcher Kultur ich es zu tun habe.“ Heute kann Erich Reichart Besuchern erzählen, dass der Schabbat schon freitags beginnt, wenn die Sonne untergegangen ist. Wann das genau ist, weiß er dank seiner Sextanten und Theodoliten – Instrumenten, mit denen er in der Freizeit Sonnenwinkel misst und in ein Logbuch einträgt. „Auch als Gärtner sollte man über Sonne und Schatten Bescheid wissen.“ Ständig wandelt Reichart zwischen Natur und Kultur. Es kommt vor, dass er Besucher über Nachtschattengewächse aufklärt, die im Schatten eines Grabsteins blühen, und im nächsten Moment erzählt, dass die Gräber nicht eingeebnet werden dürfen, weil das „der jüdischen Vorstellung vom ewigen Leben widerspricht“. 136 Staudenarten hat er kartiert, 230 Pflanzenarten insgesamt, es sollen mehr werden, dafür senst er die Wiesen zweimal im Jahr – der Boden wird dadurch ausgemagert. Wobei er die Magerwiesen nicht mehr erleben werde, das sei eine Aufgabe von mehr als 100 Jahren.

Dass ein Gärtner allein für den fast zwei Fußballfelder großen Friedhof zu wenig ist, zeigt sich am besten dort, wo Reichart „der Verkehrssicherheit wegen“ niemanden mehr hinführen darf: im südlichen Teil des Friedhofs, wo die Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg begraben sind. Baumwurzeln haben die Grabsteine dort aus ihren Verankerungen gehoben, viele Gräber sind nicht mehr erreichbar. „Es haben sich ja besonders viele Juden freiwillig zum Frontdienst gemeldet damals“, sagt Reichart. „In der Hoffnung, als gleichberechtigte Menschen anerkannt zu werden. Es hat nichts genutzt. So ein Wahnsinn, gell?“ Der Friedhofsgärtner sagt, er hänge keiner Religion an. Juden seien ihm so lieb wie Muslime oder Christen. Er finde jüdische Friedhöfe bloß schöner, weil wilder und schlichter. Sein Verhältnis zu Gott? Erich Reichart sagt: „Ich glaube schon, dass einer da ist, sonst wäre ich wohl nicht hier.“

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