Terroranschläge am 11. SeptemberWas unser Autor vor 22 Jahren in New York in sein Tagebuch schrieb

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Passanten starren fassungslos auf die rauchenden Türme des World Trade Center

Als das World Trade Center am 11. September 2021 einstürzte, stand Tim Stinauer in unmittelbarer Nähe. Der heutige Redakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“ war im September 2001 privat in New York. Am Tag nach dem Anschlag schrieb er seine Erlebnisse  in einer Art Tagebuch nieder. 20 Jahre lagen diese Aufzeichnungen in seinem Keller. Jetzt hat Stinauer den Originaltext und die Fotos, die er damals gemacht hat, wieder hervorgeholt.

12. September 2001, heute ist der  Tag eins nach der Katastrophe am World Trade Center.

Gestern Morgen, 8.45 Uhr: Eric und ich sind mit der U-Bahn bis zur Haltestelle Wall Street gefahren, wir wollten uns vor der Trinity Church mit Timm und Thomas treffen und gemeinsam an einer Führung durch die Börse teilnehmen. Als wir aus der Haltestelle traten, regnete es Staub und Papier, bedruckte DIN-A-4-Blätter. Aus Spaß sagte ich noch zu Eric: „Es schneit!“

Zuerst dachte ich, wegen der bevorstehenden Bürgermeisterwahlen hätte ein Hubschrauber Werbebotschaften über der Stadt abgeworfen. Doch dann sahen wir eine Rauchsäule.

Flammen schlugen aus beiden Türmen des World Trade Center

Wir wollten wissen, was passiert ist. Also liefen wir in die Richtung, wo der Qualm herkam. Ich dachte: „Irgendwo brennt ein Haus.“ Aber was wir dann zu sehen bekamen, war unfassbar: Flammen aus einem der beiden WTC-Türme.

Eric und ich liefen hin, kümmerten uns nicht mehr um unsere Verabredung. Wir standen vielleicht 300, 400 Meter vom WTC entfernt. Ich sah mich auf der Straße um, sah den Leuten in ihre fassungslosen Gesichter. Plötzlich ein lauter Knall. Ich gucke nach oben, Flammen schlagen auch aus dem zweiten Turm. Ich will wegrennen, Hunderte andere haben denselben Gedanken. Direkt neben mir stolpern drei oder vier Menschen und fallen übereinander zu Boden. Eine Massenpanik. Ich denke: „Eine Explosion! Gleich fallen dir Trümmer vor die Füße, treffen dich am Rücken, am Kopf. So schnell kann man doch gar nicht wegrennen!“ Aber wir rennen.

Nach vielleicht 200 Metern blieb ich stehen, drehte mich um und sah Eric. Ich lief zu ihm hin – wie erleichtert wir waren. Ich fragte ihn, was das gerade war. Er sagte: „Ein Flugzeug! Ein Flugzeug! Das gibt es ja gar nicht!“

Die Leute, die aus der U-Bahn kamen und das brennende WTC sahen, stammelten: „Jesus Christ“ und „My God, my God.“

Verzweifelte Menschen stürzten sich aus den Türmen

Nur an wenigen Stellen sperrten Polizisten die Zugangswege zum World Trade Center ab. Man konnte noch immer sehr nah rangehen. Ich blieb auf einer Kreuzung stehen, guckte in den Himmel. Es krachte, knirschte auf dem WTC. Ab und zu fielen Trümmer vom Turm in die Tiefe. Plötzlich sah ich wieder etwas herabstürzen. Ich dachte erst, das ist eine Eisenstange oder etwas ähnliches. Aber es war ein Mensch! Er ruderte mit den Armen, während er herunterfiel.

Einer auf der Kreuzung hatte ein Transistorradio in der Hand und rief plötzlich aufgeregt: „They hit the pentagon!“ Ich stand regungslos auf dieser Kreuzung und starrte auf die brennenden Türme. Es muss mittlerweile so gegen 9.30 Uhr oder 10 Uhr gewesen sein.

Ich dachte immer wieder: „Warum kommen keine Löschflugzeuge? Warum lassen die das so vor sich hin brennen? Und warum sperrt die Polizei die Straßen nicht ab?“

Auf dem Asphalt lag zentimeterdick Staub

Dann kam mir der Gedanke, dass das WTC vielleicht bald in sich zusammenstürzen könnte. Ich fasste den Entschluss, in einem großen Bogen um das WTC herum zu laufen. Also lief ich die Straße herunter. Auf dem Asphalt lag zentimeterdick weißer Staub, Asche, Schuhe von panisch Weggelaufenen. Von überall heulten Sirenen: Krankenwagen, Polizei- und Feuerwehrautos, schwarze Limousinen, aus denen Polizeibeamte im Anzug stiegen. Dann sah ich israelische Polizei und dachte, dass es sich möglicherweise um einen palästinensischen Terrorangriff gehandelt haben könnte.

Ich ging also die Straße runter und stieß auf die Uferpromenade am Hudson River. Dort lief ich vielleicht gerade mal 200 Meter entlang, als ich ein lautes bedrohliches Rumpeln hörte: Das WTC schien tatsächlich einzustürzen. Staub, dichter Staub machte sich in Sekundenschnelle breit. Die Menschen auf der Promenade wussten nicht, ob sie vor oder zurück laufen sollten. Wieder machte sich Panik breit. Ich sprang ohne viel nachzudenken auf ein ca. 20, 30 Meter langes Boot, was direkt unterhalb der Promenade vor Anker lag. Ich war der zweite auf diesem Boot. Schnell aber retten sich immer mehr Leute darauf. Der Staub wurde immer dichter. Ich presste mir das T-Shirt vor Mund und Nase und atmete. Der Hals wurde furchtbar trocken. Und das Schiff legte nicht ab. Es war fest vertäut und der Kapitän offenbar nicht an Bord. Die Leute schrien: „Take off!“, aber nichts setzte sich in Bewegung. Ich fragte eine Polizistin, warum wir nicht losfahren. Sie wirkte mit der Situation überfordert, wirkte ängstlich und fragte mich zurück, ob ich denn vielleicht wisse, wie man dieses Boot fährt.

Menschen versuchten, sich auf ein ankerndes Boot zu retten

Immer mehr Menschen sprangen unterdessen auf. Das Schiff wankte leicht. In diesem Moment stand ich die größte Angst meines Lebens aus. Ruhig in eine Ecke gekauert, versuchte ich, gleichmäßig durch mein T-Shirt zu atmen. Was, wenn der Turm jetzt ganz einstürzt? Oder war er vielleicht schon ganz eingestürzt? Ich weiß es gar nicht mehr. Ich guckte ans andere, vielleicht einen Kilometer entfernte Ufer. Und überlegte, ob ich im Zweifelsfall ins Wasser springen und versuchen sollte, hinüberzuschwimmen. Ich hatte mein Portemonnaie mit Kreditkarte, 50 Mark Bargeld und eine Fotokamera dabei.

Ich ging wieder an Deck. Alles, alles, alles war tief mit weißem Staub bedeckt: das Boot, die Uferpromenade, die Leute, die noch immer an Deck kletterten. Vorne lag ein Mann, blutüberströmt. Um ihn herum knieten zwei, drei Leute und riefen nach einem Doktor.  Ein Feuerwehrboot fuhr an uns vorbei und ein großes, leeres Ausflugsschiff. „Warum nehmen die uns nicht an Bord und fahren uns ans andere Ufer?“, dachte ich.

Plötzlich setzte sich unser Schiff in Bewegung. Es fuhr tatsächlich los. Mit jedem Meter, den es sich dem gegenüberliegenden Ufer näherte, wurde ich ruhiger. „Du hast es geschafft. Du lebst noch, du bist in Sicherheit.“

Ankerplatz verschwand unter einer gigantischen Staubwolke

Nach zehn Minuten Fahrt, noch nicht in Jersey City angekommen, ertönte ein lautes Krachen. Ein Turm des WTC (der erste? der zweite?) fiel in sich zusammen. Vom Boot aus konnte ich ein Foto machen. Die Stelle, wo wir eben noch lagen, verschwand unter einer gigantischen Staubwolke. Ich weiß nicht, ob auch Trümmer bis dahin geflogen sind. Aber hätten wir nicht kurz vorher abgelegt – ich glaube fast, ich hätte das nicht überlebt.

Jetzt ist Mittwoch, ein Tag danach, 12.40 Uhr. Ich sitze auf einer Parkbank in Morningside Heights in der angenehmen, nicht zu heißen Sonne. In der Luft Hubschrauber und US-Düsenjäger. Jedes Mal, wenn ich die Flieger höre, kriege ich für eine Sekunde Panik, gucke mich um und habe Angst, dass wieder etwas passiert. Sogar das dumpfe Grollen der nahen U-Bahn macht mich unruhig.

Ich will jetzt noch die übrigen zehn Tage wie geplant hier bleiben. Aber ein bisschen Schiss habe ich vor dem Rückflug.


Dieser Artikel wurde erstmals am 11. September 2021 veröffentlicht mit dem Titel „Was unser Autor vor 20 Jahren in sein Tagebuch schrieb“.

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