Auf dem Kamin knabbert der „Betonspecht“

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Abbruch in luftiger Höhe: Mit seinen spinnenartigen Greifarmen krallt sich der Spezialbagger an den Rändern des Niehler Kraftwerkturms fest.

Abbruch in luftiger Höhe: Mit seinen spinnenartigen Greifarmen krallt sich der Spezialbagger an den Rändern des Niehler Kraftwerkturms fest.

Bis zum Frühjahr verschwindet das einst moderne Heizkraftwerk ganz.

Am meisten liebt Dietmar Hassenrück die Stille. Den Moment, bevor er die Maschine anwirft. Den Moment vor dem Zischen und Rattern. Abends gibt es bei ihm zu Haus oft keine Musik, keinen Fernseher. „Alles zu laut“, sagt der Baustellenleiter am Heizkraftwerk Niehl I. Lieber also etwas Stille. Man glaubt's ihm. Denn wenn Dietmar Hassenrück auf zwei, drei Knöpfe drückt, beginnt sich die Maschine wieder zu regen, beginnen die Meißel am Beton zu knabbern. Dann beginnt der Lärm.

Dietmar Hassenrück beaufsichtigt die Abbrucharbeiten für das Heizkraftwerk Niehl I. Seit Wochen tragen er und sein Team von der Firma Heinrich Becker im Auftrag des Betreibers Rhein-Energie den einst 180 Meter hohen Kamin der Anlage ab. Dafür klettern sie jeden Morgen die 75 Meter auf das Kesselhaus, auf dem der Turm montiert ist. Mit dem Lift geht es dann auf den Turm. Zehn Minuten brauchten die Männer am Anfang für den Aufstieg. Jetzt geht es schneller, weil die Arbeiter die Hälfte des Turms am Niehler Hafen schon abgetragen haben.

Oben wartet der „Betonspecht“ auf sie - ein Wunder der Ingenieurskunst. Mit Spinnenfüßen thront der vier Tonnen schwere Spezialbagger auf dem Schlot und hakt sich am Kamin fest. Hackt unter sich das Mauerwerk weg. Damit die Maschine, die es nur wenige Male in Deutschland gibt, nicht den Boden unter den Füßen verliert, können die Arbeiter sie hydraulisch bewegen. Die Spinnenfüße verändern ihre Position, wandern über den Grund. Die Maschine ist unbemannt, die Arbeiter steuern sie per Fernbedienung. Vier Meter brechen sie am Tag ab. Das klingt nicht nach viel. Aber es soll ja auch nichts schieflaufen.

Sie hätten den Turm einfach sprengen können, das wäre ein Spektakel für ein paar Augenblicke gewesen. In unmittelbarer Nähe liegen aber Öltanks, elektrische Leitungen und auch das Kraftwerk Niehl II, das durch die Erschütterungen hätte beschädigt werden können. Zu hoch der Turm auch, um ihn mit einer herkömmlichen Abbruchbirne zu bearbeiten.

1976 haben die GEW das Kraftwerk Niehl I eingeweiht. Damals sei es eines der modernsten Energieanlagen in Deutschland gewesen, erläutert Karsten Klemp, Kraftwerksleiter vom GEW-Nachfolger Rhein-Energie. 29 Jahre lang wurden hier jährlich 315 Megawatt Strom produziert. Genug, um die ganze Innenstadt zu versorgen, und dazu noch Teile der Ford-Werke. Als erstes deutsches Kraftwerk erhielt Niehl I das Umweltzertifikat der Europäischen Union. „Flüsterkraftwerk nannten es die Verantwortlichen, weil man in 600 Meter Entfernung nur einen Lärmpegel von 25 Dezibel hören konnte. Nicht mehr als ein Blätterrauschen. Dietmar Hassenrück hätte seine Freude gehabt.

Jetzt muss er es abreißen, weil das Werk den modernen Umweltstandards nicht mehr gerecht wird. Weil es nicht so wirtschaftlich arbeitet wie die neuen Anlagen. Der Energiewirkungsgrad liegt mit 40 Prozent weit unter den heutigen Standards. Rhein-Energie errichtete stattdessen in direkter Nachbarschaft den Nachfolger Niehl II, der mit einer Stromleistung von 400 Megawatt den Vorgänger toppt und dazu noch 28 Prozent weniger Kohlendioxid in die Luft bläst.

Ende Januar soll der Turm weg sein, der Rest der Anlage bis zum Frühjahr verschwinden. Ganz am Ende wird nur noch eine grüne Wiese bleiben. Dann wird es für eine Zeit lang ganz ruhig. Aber nicht für lange: Rhein-Energie tüftelt schon an Plänen für ein neues Kohlekraftwerk. „Das Projekt liegt aus wirtschaftlichen Gründen zwar auf Eis, aber wir planen weiter“, sagt Klemp. Die Maschinen werden also wiederkommen.

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