Freundschaft mit einem MörderBriefe in die Todeszelle

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Anna-Lena Gruenagel hat Renaldo McGirth bislang sechsmal im Gefängnis besucht. 

Anna-Lena Gruenagel hat Renaldo McGirth bislang sechsmal im Gefängnis besucht. 

Die Kölnerin Anna-Lena Gruenagel schreibt sich seit sechs Jahren mit einem zum Tode verurteilen Mörder in Florida. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft.

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Wenn ihr Freund Renaldo seine letzten Worte sprechen wird, festgeschnallt auf einer Liege, bedeckt mit einem weißen Laken, wenn der Vollstrecker des State Prison, Florida, USA, die Giftspritze in seinen Arm sticht, dann will Anna-Lena Gruenagel daheim in Köln sitzen, umgeben von engen Freunden, die sie trösten.

Sie wird nicht als Zeugin dabei sein, wenn Renaldo McGirth hingerichtet wird. Bei einer Exekution dürfen im Bundesstaat Florida nur die Familien der Opfer und eine Handvoll Journalisten hinter einer Glasscheibe zusehen. Aber selbst wenn sie dürfte – sie würde es nicht wollen. „Es wäre zu traurig“, sagt die 39-Jährige.

Vielleicht kommt es auch nicht so weit. Womöglich kann der verurteilte Mörder Renaldo McGirth der Todesstrafe noch im letzten Moment entkommen. Wegen einer Gesetzesreform in Florida wird sein Urteil im Sommer noch einmal geprüft – es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass es in lebenslänglich umgewandelt wird.

Der 29-Jährige sei voller Zuversicht, sagt Anna-Lena Gruenagel. Sie selbst ist es nicht. „Aber ich möchte ihm die Hoffnung nicht zerstören.“ Sein bevorstehender Tod ist eines der wenigen Themen, das die Kölnerin in ihren Briefen an McGirth zu meiden versucht.

Der amerikanische Todeskandidat und die deutsche Projektmanagerin kennen sich seit sechs Jahren. Sie schreiben sich fast jede Woche. Sechsmal hat Gruenagel McGirth schon im Gefängnis besucht. Es ist eine ungewöhnliche Freundschaft, sie rücke vieles zurecht in ihrem Leben, sagt Anna-Lena Gruenagel. „All meine Probleme sind relativ, wenn ich daran denke, was er durchlebt.“

Für den 29-Jährigen ist die Kölnerin mehr als eine gute Freundin, sie ist auch sein Fenster zur Welt. Er nimmt teil an ihren Urlaubsreisen, an ihren Partys und Alltagsproblemen. Dieser Tage drückt er ihr die Daumen bei der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle. Er schreibt: „Du musst nur dranbleiben und darfst nicht allzu frustriert sein.“ Er ist in Gedanken dabei, als Gruenagels Mutter im Vorjahr an der Nervenkrankheit ALS stirbt und schreibt aufmunternde Worte. Er bangt mit seiner Brieffreundin, als diese wenige Monate später an einem Tumor erkrankt. Er betet, während sie operiert wird. Heute beginnt er seine Briefe oft mit dem Satz: „Ich hoffe, dass du das im besten Zustand liest – geistig und körperlich.“

Die 39-Jährige bezeichnet McGirth als sehr engen Freund, als Seelenverwandten sogar. Er nennt sie „Sunshine“, weil sie so viel lacht. Es gibt Fotos von Renaldo und Anna-Lena, aufgenommen vom Gefängnisfotografen bei einem ihrer Besuche. Auf den Bildern strahlen beide. „Wir haben denselben Humor“, sagt Gruenagel. „Wir haben uns auf Anhieb super verstanden.“

Sie aus gutem Haus, er aus der Armensiedlung

Und doch sind ihre Lebenswege sehr unterschiedlich. Sie stammt aus gutem Haus, macht ihr Abitur auf dem Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Köln, schließt ihren Bachelor in Banking and Finance an der Frankfurt School of Finance and Management ab. Er wächst mit seiner Mutter und Halbgeschwistern in einer schwarzen Armensiedlung in Florida auf, gerät immer wieder in Konflikt mit der Polizei, seinen leiblichen Vater lernt er erst im Todestrakt kennen.

Den ersten Brief schreibt Gruenagel 2012, nachdem sie einen Artikel über „lifespark“ (auf Deutsch: Lebensfunke) gelesen hat, eine Schweizer Initiative gegen die Todesstrafe. Gruenagel wird sofort Mitglied, seit zwei Jahren ist sie Präsidentin des Vereins.

„Lifespark“ vermittelt Brieffreundschaften zu US-Gefangenen, die zum Tode verurteilt wurden. Derzeit stehen 96 Insassen auf einer Warteliste. „Alle, die da draufstehen, haben etwas Schreckliches getan. Es sind Mörder, die bestraft werden müssen“, sagt Anna-Lena Gruenagel. „Aber wie können wir uns denn auf die gleiche Stufe stellen und sie umbringen? Das ist unwürdig.“ Jeder habe eine zweite Chance verdient. Und jeder habe menschlichen Kontakt verdient – sei es auch nur in Form einer Brieffreundschaft.

„Lifespark“ kämpft gegen die Todesstrafe

„Lifespark“ wurde 1993 in der Schweiz gegründet. Die gemeinnützige Organisation, die ihren Sitz in Basel hat, kämpft gegen die Todesstrafe. Sie hat bislang ungefähr 1600 Brieffreundschaften mit zum Tode verurteilten Gefangenen in den USA vermittelt. Derzeit hat der Verein 300 Mitglieder, die meisten sind weiblich und leben in Europa. Manche stammen auch aus den USA, aus Südkorea oder Brasilien.

Die Mitglieder können sich die Gefangenen nicht aussuchen, sie bekommen sie zugewiesen. Es geht streng nach der Reihenfolge auf einer Warteliste. Wer sich für eine Brieffreundschaft mit einem Todeskandidaten interessiert, muss volljährig sein. In einem Telefonat prüft „lifespark“ vorab die Motivation der Interessenten und erklärt die organisatorischen Details. (ts)

www.lifespark.org

Als sie McGirth vor sechs Jahren die ersten Zeilen schreibt, lebt Gruenagel in Kanada, arbeitet in Montreal für die deutsch-kanadische Industrie- und Handelskammer. Sie will sich nebenbei ehrenamtlich betätigen, zeitlich aber flexibel bleiben. „Außerdem schreibe ich gern, und ich pflege meine Freundschaften.“ Noch bevor sie den ersten Brief abschickt, googelt sie, welches Verbrechen Renaldo McGirth vorgeworfen wird.

Es ist ein heißer Sommertag im Juli 2006. James und Diana Miller, beide Mitte 60, seit 42 Jahren verheiratet, leben in The Villages, einem noblen Wohnviertel nordwestlich von Orlando. Eine bewachte Großsiedlung, 114000 Einwohner, fast nur Rentner. 98 Prozent Weiße. Die Tochter der Millers, Sheila, Mitte 30, hat eine lange Alkohol- und Drogenkarriere hinter sich. Seit einem Autounfall sitzt sie im Rollstuhl.

An jenem 21. Juli lässt sie drei Bekannte ins Haus. Einer soll Renaldo McGirth gewesen sein, ihr ehemaliger Dealer, damals 18 Jahre alt. Minuten später fallen Schüsse. Sheilas Mutter Diana stirbt durch einen Schuss in den Hinterkopf, ihr Vater James überlebt schwer verletzt. Die drei Bekannten laden Sheila ins Auto, fahren mit ihr in ein Einkaufszentrum und zwingen sie, mit der geraubten Kreditkarte ihrer Eltern 500 Dollar an einem Bankautomaten zu ziehen. Die Polizei stoppt die Männer und ihre Geisel nach einer spektakulären Verfolgungsjagd. Zwei werden zu Haftstrafen verurteilt. McGirth bekommt als mutmaßlicher Schütze die Todesstrafe – als damals Jüngster in Florida.

Seit zehn Jahren wartet er auf die Hinrichtung

Seit nunmehr zehn Jahren wartet er auf einen Termin für seine Hinrichtung. Manche Todeskandidaten warten 15 Jahre und länger. McGirth bestreitet die Tat, sagt Anna-Lena Gruenagel. Glaubt sie ihm? Die Antwort kommt nach kurzem Zögern: „Ich habe ein paar Sachen über den Fall gelesen, und ich finde, es gibt Ungereimtheiten. Aber es spielt für mich und für unsere Freundschaft letztlich keine Rolle, ob er es war oder nicht.“

Renaldos Version ist folgende: Er sei nicht im Haus gewesen, als Diana Miller erschossen wurde, er sei erst später ins Fluchtauto zugestiegen. Die Jury im Prozess glaubte ihm nicht, befand ihn mit 11:1 Stimmen für schuldig. Die Gegenstimme ist es, die ihm womöglich noch das Leben retten könnte. Denn nach der Rechtsreform von 2016 müssen Todesurteile einstimmig gefällt werden, rückwirkend bis 2002. McGirth wurde 2008 verurteilt.

Ein Bett, eine Toilette, ein Waschbecken - und eine Schachtel mit den Briefen

Sein Leben im Todestrakt ist seitdem streng geregelt: Frühstück um fünf, Mittagessen um elf, Abendbrot um vier. Der 29-Jährige liest viel, er schaut fern und hört Musik. Seine Einzelzelle darf er alle zwei Tage zum Duschen verlassen und einmal pro Woche zur Sportstunde im Hof – falls die Aufseher guter Stimmung sind. Sonst nicht. Den Rest der Zeit verbringt er alleine auf fünf Quadratmetern. „Seine Zelle ist so groß wie mein Bad“, sagt Anna-Lena Gruenagel. Er hat sie ihr mal aufgezeichnet: ein Bett mit dünner Matratze, eine Toilette, ein Waschbecken. Und eine Schachtel für persönliche Sachen, die er unter sein Bett schieben kann. Darin bewahrt McGirth seine Briefe auf.

Manche „lifespark“-Mitglieder berichten von Avancen der Häftlinge. Beziehungen sind entstanden, es gab auch schon Hochzeiten im Knast. Ob auch Renaldo sich mehr vorstellen könnte als eine Brieffreundschaft? Für Anna-Lena Gruenagel steht die Frage nicht zur Debatte. „Das ist eine Brieffreundschaft, da ist für mich auch die klare Grenze.“ Das Thema Liebesbeziehungen klammert sie daher in den Briefen an ihren Freund in Florida grundsätzlich aus. „Ich will bei ihm gar nicht erst etwas Falsches wecken.“

Streitigkeiten gibt es mitunter wie in jeder Freundschaft. Anfang März tadelt McGirth die 39-Jährige zum wiederholten Mal, sie müsse sparen – obwohl sie gar keine großen Ausgaben hat. „Be a penny pincher“, sei ein Sparfuchs, mahnt er, „auch beim Ausgehen“. Gruenagel ist genervt, schreibt ihm das auch. „Beim Thema Lebenshaltungskosten“, erzählt sie, „hat er einfach den Faden verloren. Er versteht nicht, dass allein ein Busticket schon zwei Euro kostet.“

Mit derselben Beharrlichkeit treibt McGirth seine Zukunftspläne voran. Er wolle noch so vieles erleben, schreibt er, frei sein und Zeit mit seiner Brieffreundin und seiner Familie verbringen. An die drohende Hinrichtung verschwendet er keinen Gedanken. Jedenfalls steht davon nichts in seinen Briefen. Als Gruenagel ihm nach dem Tod ihrer Mutter schildert, wie sie sich ihre eigene Beerdigung vorstellt, als Luftbestattung, weil sie die Welt noch einmal von oben sehen will, antwortet McGirth prompt. „Das möchte ich auch.“ schreibt er . „Das hört sich nett an.“

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