Hochbegabte in KölnVon der Verzweiflung, ein Genie zu sein

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Er ist hochbegabt: Patrick aus Köln

  • Hochbegabt sein, das heißt in unserer Gesellschaft doch eigentlich alle Möglichkeiten zu haben – oder?
  • Dass das Leben mit einem überdurchschnittlich hohen IQ nicht automatisch einfach ist, zeigt der Fall von Patrick.
  • Wir haben ihn und andere Hochbegabte zu einem Gespräch in Köln getroffen – bei einem Spiele-Abend unter Gleichgesinnten.
  • Eine Geschichte aus unserem Archiv.

Als Patrick einer der intelligentesten Menschen der Welt wird, ist er Ende 30 und arbeitslos. Ein Murmeltiermorgen, Patrick kennt das schon. Die Sonne knallt erbarmungslos in den stickigen Behördenraum, die Stühle sind unbequem wie immer. Patrick hat sich hergeschleppt, in die Agentur für Arbeit, dieses Mahnmal der Taugenichtse. Mal wieder. Er will ja die Hoffnung nicht aufgeben, nicht faul sein. Und zu Hause ist es sowieso langweilig.

Also wieder eine Weiterbildungsmaßnahme. Der „berufspsychologische Service“ steht an, Beamtendeutsch für „Wir haben immer noch nichts für Sie.“ Patrick ist einer der „Kunden“, wie die Agentur die Teilnehmer nennt. Dabei will er gar nichts kaufen, er hat ja ohnehin kein Geld, er will nur wieder arbeiten. Patrick war Dachdecker, dann Lagerarbeiter, dann gar nichts mehr.

Best-Of-Geschichte

Dieser Artikel ist im August 2018 im „Kölner Stadt-Anzeiger” erschienen. Im Rahmen unserer „Best Of”-Reihe veröffentlichen wir regelmäßig interessante Texte aus unserem Archiv.

Er ist ein schwerer Mann, das Laufen geht nicht mehr gut, das Tragen noch weniger. An Qualifikationen mangelt es, an Disqualifikationen nicht: Er hat einen Hauptschulabschluss. Der Schnitt ist in Ordnung. Doch was nützt ein Hauptschulabschluss schon in Zeiten der Akademisierung der Berufswelt, denkt er.

Auch die Agentur weiß nicht so recht, wohin mit Patrick. Also soll Patrick heute einen IQ-Test machen. Der soll Klarheit darüber bringen, welche Berufe für Patrick überhaupt noch in Frage kommen. Beschäftigungstherapie für Schwervermittelbare. Patrick macht. 20 Minuten, ein Dutzend Logikaufgaben, ein paar Kreuze. Keine große Anstrengung. Er denkt sich nichts dabei.

Hochbegabt. Auf einmal.

„Hui, da ist aber was“, sagt die freundliche Sachbearbeiterin noch, ehe sie Patrick die Auswertung auf den Tisch legt. Der Blick auf den Zettel trügt, glaubt Patrick, muss trügen. Er macht den Test noch einmal. Das Ergebnis bleibt: über 130. Hochbegabt. Auf einmal. Als hätte ihm jemand die Eintrittskarte in die Welt der Superschlauen geschenkt. Der Eingang liegt nicht weit entfernt, nur wenige Fußminuten vom Aachener Weiher in einer kleinen Weinbar in Lindenthal.

Es dauerte vier Jahre, bis Patrick sein Ticket löst. Um Punkt 19 Uhr sitzt er nun hier, allein, auf einem Barhocker. Hinter ihm streiten sich Studenten darüber, wer die nächste Schnapsrunde bezahlt, am Nebentisch sprechen Männer mit Krawatte und schlechter Laune über „Charts“ und „Papers“. Bunte Ölgemälde hängen an den Wänden, ein Klavier steht im Raum, ein Natur-Möhrensaft für fünf Euro pro Glas auf der Karte. Schick ist es, ein bisschen vornehm. Patrick hat sich ein dunkelblaues Hemd angezogen, nicht gebügelt zwar, aber unauffällig. Dazu trägt er Drei-Tage-Bart, wache braune Augen und ein spitzbübisches Lächeln. Er ist gut gelaunt, mittlerweile eigentlich immer, seit dem Testergebnis. Sagt er zumindest.

Seine Finger tippen im Takt der lateinamerikanischen Hintergrundmusik auf die hellen Jeans. Ein silbernes „Reserviert“-Schild steht vor ihm auf dem Tisch, die Bedienung stellt eine Cola Light daneben. Ein Gruß, man kennt sich. „Du gehörst doch zu den Schlauen?“, fragt der Kellner. Patrick nickt. Die Kollegen kommen gleich. Natürlich gehört er dazu. Das ist sein Platz. So lange wusste er nicht, dass es ihn überhaupt gibt. Und jetzt will er nicht mehr weg. Hier gehört er hin.

„Ich habe das Gefühl, ich habe den Großteil meines Daseins verschwendet“, sagt Patrick, bevor er ächzend seinen Körper aus dem Sitzkissen hochdrückt. Da sind sie ja, die Kollegen. Ein Handschlag zur Begrüßung, ein Kompliment zur neuen Brille. Fast familiär wirkt das. Die Verwandtschaft aber kommt nicht durchs Blut. Sondern durchs Gehirn. Alle zwei Wochen trifft sich Patrick mit der Intelligenzelite Kölns. Zum Brettspielen.

Der exklusivste Klub der Welt?

Wie oft schon, das weiß Patrick gar nicht mehr. Nach der Entdeckung seines Genies suchte Patrick eine spezielle Betreuerin auf, die sich auf Menschen wie ihn, Menschen die ihre Begabung erst spät bemerken, spezialisiert hat. Sie erzählte ihm von den anderen, von der Weinbar, von „Mensa“, einem der exklusivsten Klubs der Welt. Ein Netzwerk, das sich über den gesamten Globus erstreckt, und nur eine Aufnahmebedingung hat: klüger sein als 98 Prozent der Erdbevölkerung. Patrick ist es.

Die Fahrtzeit bis in die Umlaufbahn der „Mensaner“, wie sich die Mitglieder selbst nennen, war überraschend kurz. Ein Schnupperbesuch beim Stammtisch, den Test noch ein letztes Mal machen. Schon war Patrick einer von ihnen.

Manchmal noch ein Alien

„Mensa“ bietet viele gemeinsame Aktivitäten an: Brunchen, Cocktails Mixen, Tanzen. Patrick hat einiges ausprobiert, ist letztlich nur beim Spieleabend und Poker hängengeblieben. Ganz gelandet scheint er aber immer noch nicht auf diesem Planeten. Augenscheinlich schon sticht er heraus: Patrick ist der einzige Mann am Tisch, dessen Kopf noch nicht kahl ist. Es wirkt fast, als ob das viele Grübeln seinen Tribut in den Haarwurzeln fordere. Nur Patricks Scheitel hat noch einen gnädigen Aufschub bekommen. Schließlich ist er „Spätzünder“.

Manchmal ist er noch Alien. Dann, wenn er so ganz ohne nachzudenken, ganz ohne abzuwägen, in den kopfhohen Stapel von Brettspielen greift. Muss doch eigentlich jede Spielwahl abgestimmt werden. Patrick aber schnappt sich einfach zufällig „Alhambra“, ein Strategiespiel, bei dem man auf unendlich komplizierte Weise eine Stadt bauen muss, und beginnt die Regeln zu erklären. Er macht das mit wilden Gesten, mit lauter Stimme, mit „wie“ statt „als“ in seinen Sätzen.

„Dann kommt's darauf an, dass du mehr Türme besitzt wie dein Gegner“, sagt er, den kölschen Dialekt merklich unterdrückend. Dann kommt der Dachdecker zurück. Ungestüm und unbedacht. Dann kann man sich ihn besser in einer Pommesbude, beim Mittagessen im Gespräch mit den alten Kollegen vorstellen als bei einem Spielabend für Hochbegabte. Um halb acht sind zehn Spieler anwesend. Die erste Entscheidung des Abends geht an Patrick. „Dann machen wir jetzt einen zweiten Tisch auf“, sagt er. Christoph, der eigentlich anders heißt, Stefanie, die Organisatorin, und ihr Freund Joachim folgen ihm. Es bleibt bei „Alhambra“. Der Kellner bringt eine neue Runde.

Keinen Alkohol. Alle trinken Cola Light. Alkohol, das ist nichts für Hochbegabte. Er schmeckt ihnen nicht. Sagen sie. „Dabei müsste man ja eigentlich trinken, denn die schwachen Gehirnzellen sterben ja zuerst. Da würde man bestimmt noch schlauer“, sagt Patrick. Ein Scherz, wissenschaftlich sicher anzweifelbar. Aber auch Witze sind nichts für Hochbegabte, zumindest nicht solche.

Das lange Zweifeln

Nur Christoph schmunzelt. Aus Höflichkeit, so wirkt es. Er muss schließlich Anschluss finden. Zum ersten Mal ist er heute dabei, in Köln, war vorher schon bei „Mensa“ im Ruhrgebiet aktiv. Und teilt ein ähnliches Schicksal wie Patrick. Zwei abgebrochene Ausbildungen, dann ein frühzeitig beendetes Studium. Auch er erfuhr von seinem immensen IQ erst bei der Agentur für Arbeit. Christoph will nicht reden. Wenn, dann nur über das Spiel.

Joachim kauft allerdings alle Türme, was bei „Alhambra“ der beste Weg zum Sieg ist, Christophs Chancen schwinden, was sich in seinen angespannten Muskeln auf der Stirn abzeichnet. „Das Ding ist ja“, ringt er sich nach seinem Zug zu einer Erklärung durch, „du merkst das selbst nicht. Also die Intelligenz. Für dich ist dein eigenes Handeln normal und der Maßstab. Alleine kommst du da nicht drauf. Im Gegenteil: Es gibt durchaus Situationen im Alltag, in denen ich mich dumm fühle, weil ich mein Gegenüber gerade nicht verstehe“. Auch Patrick hat lange gezweifelt. Er konnte einfach nicht glauben, dass er hyperintelligent ist und davon nichts gemerkt hat. Schließlich ist das allein ja schon irgendwie ein Widerspruch in sich.

„Früher“, sagt Stefanie, „da haben sich weniger Menschen um den IQ geschert.“ Heute aber würde Hochbegabung von vielen als direkter Weg in den Olymp der Gesellschaft gesehen. Wie ein Generalschlüssel für alle Türen, die dann ganz plötzlich im Leben offenstünden. „Mittlerweile lassen viele Eltern ihre Kinder schon auf Hochbegabung testen, wenn sie in der Schule zwei Einsen hintereinander schreiben“, sagt sie.

Die fleischgewordene Antithese

Stefanie spricht freundlich, schaut aber meistens streng. So, als würde sie jeden Moment des Abends auf seine Effizienz prüfen wollen. Wenn sie nicht an der Reihe ist, streicht sie unentwegt Termine mit neongelbem Marker in ihrem vollgeschriebenen Kalender an, tippt Dutzende Mails in ihr Smartphone. Während ihr Freund Joachim genüsslich seine Pommes abwechselnd zwischen Mayonnaise und Ketchup hin und her tunkt, löst Stefanie eine Halsschmerztablette in ihrem Getränk auf. Krankheit hat sie diesen Monat nicht mehr eingeplant. Sie ist Marketing-Managerin. Und vielleicht die einzige am Tisch, die das Klischee des Superschlauen mit Superjob ein bisschen erfüllt.

Der Rest der Spielegemeinschaft scheint dagegen wie die fleischgewordene Antithese.

Da ist also Patrick, der mittlerweile seinen Realschulabschluss nachgemacht hat, zwar mit Einserschnitt, aber immer noch keinen Job hat. Überhaupt ist er zu „Mensa“ gekommen, um zu erfahren, wie er studieren könnte, ohne auch noch sein Abitur nachzuholen. „Fazit: gar nicht“, sagt er, „aber jetzt noch einmal vier Jahre Abi machen und Uni dranhängen - dann bin ich fünfzig.“ Im Moment könne er eh nicht arbeiten. Er ist krank. Vielleicht ADHS, aber das sei noch nicht das schlimmste. Mehr will er nicht sagen. Dann ist da Christoph, der jetzt Schauspiel studiert und seine Geldsorgen nicht geheim hält. Und dann ist da Joachim, der BWL studiert hat und damit gänzlich unzufrieden ist.

Sie alle wollen eigentlich nur eins sein: einfach ganz normal. Einmal, da ließ Patrick sein Portemonnaie in der Abendschule offen auf dem Tisch liegen. Aus Versehen. Seine Mitschüler sahen den knallroten „Mensa“-Ausweis sofort, einer schaute schnell bei „Google“ nach. Ab da musste er alles wissen, sonst gab's Häme.

Dabei kann er eben nicht alles. Sprachen zum Beispiel nicht. Er selbst hat nur seinem Cousin von seinem hohen IQ erzählt. Ein Fehler, seitdem können die beiden sich nicht mehr normal unterhalten, der Verwandte sehe ihn mit anderen Augen.

„Der Umgang verändert sich einfach, wenn man es verrät“, sagt Christoph, „jeder Mensch hat ein Bild von Hochbegabung im Kopf und die wenigsten davon stimmen. Es ist einfach anstrengend, jedes Mal neu zu erklären, dass die so nicht zutreffen.“

Christoph ist seine Begabung unangenehm. Das kann er nicht verstecken. Er schämt sich, wischt sich erst über die Stirn, dann über die großen Gläser seiner schwarzen Brille. Erstaunlich oft betont er, dass er ja auch nichts dafürkönne. Als wäre seine Intelligenz eine Strafe. „Es ist letztlich nur ein Test, der deine Denkgeschwindigkeit misst. Es ist ein Teil meiner Persönlichkeit, nicht mehr, aber auch nicht weniger“, sagt er.

Es ist die Ignoranz

Bescheiden klingt das. Als wolle er sich nichts darauf einbilden. Und doch sitzt er hier, zusammen nur mit Menschen, die dieselbe Begabung haben wie er, auf einem Spieleabend eines Klubs, in den nur Menschen dürfen, die einen IQ von über 130 haben. Wie ein Model, das versichert, für ihn zählen Äußerlichkeiten wirklich nicht, sich dann aber doch von den Menschen mit Doppelkinn in der U-Bahn wegsetzt. „Das hier ist eine offene Veranstaltung, es dürfen auch Nicht-Mensaner zum Spieleabend kommen“, betont Stefanie. Auch Nicht-Hochbegabte. Passieren tut das aber eher selten, außer jemand bringt seine Freunde mit. Heute sind nur Mitglieder da.

Es ist Ignoranz und Benachteiligung, die Christoph zu „Mensa“ getrieben hat. Endlich Menschen, die wissen, wie er sich fühlt. Die ihn nicht schräg anschauen oder auslachen, wenn er erzählt, dass er im Bus ein mathematisches Theorem aufgestellt hat. „Mensa ist wie ein Taubenzüchterverein für Hochbegabte: Wir haben eine Sache, die uns verbindet, um die es letztlich aber nur am Rande geht. Vielmehr geht es darum, Dinge gemeinsam zu unternehmen.“ Klingt auch ein wenig nach Therapie.

Man spricht nicht über den IQ

Aber tatsächlich: Der IQ ist egal. Es ist zumindest verpönt, in „Mensa“-Kreisen über seine Höhe zu sprechen. Man könnte ja jemanden vor den Kopf stoßen. Ein stummes Gesetz wie "Gesundheit" nach dem Niesen wünschen oder vor dem Essen die Hände waschen. Klar, es gibt sie, die Professoren und Businessmänner bei „Mensa“, die mit Doktortiteln und viel Geld, die angeben. Aber sie sind heute Abend nicht da.

Das Spiel ist vorbei. Viel haben die vier nicht geredet. Ehrgeiz war kaum zu spüren. Nur die Erleichterung, einen Abend lang mal nicht ein Doppelagent des eigenen Gehirns sein zu müssen. Die Anzahl der Stadtmauern wird für das Ergebnis zusammengezählt. „Ich hab' den längsten“, sagt Patrick plötzlich. Joachim und Christoph prusten los, Stefanie verdreht die Augen und sagt: „Typisch Männer, immer nur das eine im Kopf.“

Der Text ist zuerst im August 2018 im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erschienen.

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