Boris Groys„Nur Gott sieht all diese Bilder“

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Im Internet entwirft jeder eine eigene Existenz - und stellt sie aus (Bild: Youtube)

Im Internet entwirft jeder eine eigene Existenz - und stellt sie aus (Bild: Youtube)

KÖLNER STADT-ANZEIGER: Herr Professor Groys, in wenigen Tagen verlassen Sie Köln und ziehen nach New York. Wie sieht Köln in zehn Jahren aus?

BORIS GROYS: Köln scheint mir eine Stadt zu sein, die niemals wirklich untergeht. Einfach wegen der sehr, sehr guten Lage in Deutschland und zwischen Frankreich und den Benelux-Ländern. Eine zentrale Region, in der immer Kultur gemacht worden war. Die Untergangsstimmung teile ich gar nicht.

An welchen Schauplätzen informieren Sie sich über Kunst?

BORIS GROYS: Man geht immer zur documenta und irgendwie nach wie vor mit einer gewissen Erwartung, dass man das Relevanteste sieht. Ab und zu geht man zur Biennale in Venedig, nach wie vor auch mit dieser Erwartung. Von Europa aus ist es schwierig, oft genug nach Asien zu kommen, um dort Ausstellungen, etwa in Südkorea, anzuschauen, die interessant sein können.

Was haben Sie von den beiden letzten Documenta mitgenommen?

GROYS: Die vorletzte von Okwui Enwezor 2002 hat mir sehr gut gefallen. Die Künstler waren sehr gut ausgewählt in Hinsicht auf die aktuelle Kunst, und ich hatte auch das Gefühl, dass sie verständlich gezeigt wurden.

Und 2007, bei Roger M. Buergel?

GROYS: Da hatte ich diesen Eindruck nicht - ganz abgesehen davon, ob die Künstler relevant oder nicht relevant ausgewählt waren. Ich war nicht unbedingt einverstanden mit der Auswahl. Aber unabhängig davon war die Ausstellung so organisiert, dass man so etwas wie einen allgemeinen Eindruck bekommen hat. Die Räume waren so angelegt, dass man ständig an den Arbeiten vorbeigehen sollte. Dass man sich nicht sammeln, nicht konzentrieren kann, hat mir nicht gefallen. Sicher nicht für alle Besucher verständlich und etwas problematisch war, wie man die Gegenwartskunst und Zitate aus den 60er und 70er Jahren zusammengebracht hat. Dieses Problem sehe ich derzeit auch bei der Biennale in Venedig, wo man auch wieder so etwas wie einen Gesamteindruck bekommt - ein homogenes Bild, eine Vision oder Charakterisierung dessen, was man als Gegenwartskunst bezeichnen soll.

Steckt dahinter das Bedürfnis nach Rückversicherung der Gegenwart?

GROYS: Das auch, aber fasst verstehe ich es eher umgekehrt: Es gibt eine starke Tendenz zum ständigen Umschreiben der Kunstgeschichte. So habe ich das bei der letzten documenta und jetzt in Venedig eher gesehen. Man sucht also aus der heutigen Perspektive nach Phänomenen, die auch früher dem heutigen Geschmack entsprochen hätten - und vielleicht früher übersehen worden sind oder in einem Kontext gezeigt wurden, der sich mit der Zeit geändert hat. Es geht also um eine rückwirkende Umstrukturierung der Vergangenheit.

">Also nicht: „Keine Pop Art ohne Duchamp“, sondern: „Ohne Pop Art kein Duchamp“.

GROYS: Ja, vorher gab es ja auch wirklich keinen Duchamp. Das ist eine Umschreibung, ein „Re-Writing“ der Geschichte, die dann beginnt zu passen zu dem, was heute ist. Geschichte wird immer geschrieben, um zu erklären, warum heute die Dinge so sind, wie sie sind.

Sie haben einmal sinngemäß geschrieben, Kunst sei überhaupt nur mehr als Ready-made möglich.

GROYS: In dieser Radikalität würde ich das wahrscheinlich nicht formulieren, aber was ich nach wie vor meinen würde, ist: Was die Künstler produzieren, ist schon seit längerer Zeit nicht so wichtig. Wichtig ist die Entscheidung des Künstlers hinsichtlich der Ausstellung. Die Frage ist also nicht, ob ich als Künstler etwas gemacht habe oder ob ich etwas gefunden habe; die Frage ist, ob ich beschlossen habe, das hier und jetzt als mein Kunstwerk auszustellen und zu unterschreiben.

Sie haben jüngst den Künstler heute selbst als Konsumenten bezeichnet.

GROYS: Das hat damit etwas zu tun, ja. Wenn ein Künstler etwas ausstellt, benutzt er seine eigene Arbeit als Statement. Was frühere Zeiten von heutigen unterscheidet, ist - unter anderem - die Rolle der Ausstellung. Traditionelle Kunst wurde gemacht für Paläste und Kirchen, wo sie in das kirchliche Ritual oder ins Palastwesen involviert war, oder sie kam in permanente Sammlungen, die als solche besucht wurden. Die Kunst existierte jenseits des Ausstellungswerts. Die Ausstellung ist die heutige Existenzform, die Grundeinheit der heutigen Kunst. Museen sind Orte temporärer Ausstellungen geworden, die als Statement im öffentlichen Raum wahrgenommen werden - unabhängig von den einzelnen Künstlern.

Seit wann ist das so?

GROYS: Seit rund 20 Jahren. Die Epoche der Ausstellung beginnt schon in der Klassischen Moderne - was Duchamp gemacht hat, zählte zu den ersten Reaktionen darauf. Damals haben einige, aber nicht viele, bemerkt, dass die Ausstellung wichtiger und wichtiger wird, und nicht das, was man ausstellt.

Wohin wird sich dies entwickeln?

GROYS: Wir können eine interessante neue Welle beobachten, die die Sache noch weitertreibt und vielleicht auch verändert, das ist die Digitalisierung, die Rolle des Internets, Google, neue Social Networks wie Myface, YouTube, die dem Ausstellungswesen eine sehr, sehr harte Konkurrenz bieten. Und fast würde ich sagen: Sie werden diese Konkurrenz gewinnen.

Warum?

GROYS: Was wir jetzt sehen, ist, dass die Leute sich bei Myface und YouTube präsentieren wie postkonzeptualistische Künstler. Es gibt fiktive Persönlichkeiten, Künstler sozusagen, dann kommen Texte, Kommentare, Bilder, Fotos, Videos, Filme, Aktionen, Events - Hunderte Millionen von Menschen beginnen jetzt, so etwas zu produzieren wie eben postkonzeptualistische Kunst. Es ist ein neues Phänomen, und wie man damit fertig wird, ist für mich eine große Frage. Wer soll diese Millionen Selbstdarstellungen überhaupt anschauen? Kritisieren, analysieren? Für mich gibt es darin etwas Neo-Theologisches. Hunderte Millionen Menschen präsentieren sich - für wen? Fast würde ich sagen: Für Gott, weil er hat diese Möglichkeit, dies alles zu sehen! Und nur er. Die Menschen tun dies alles für einen unbekannten Zuschauer. Was wir haben, ist eine Kultur, in deren Mitte sich so etwas befindet wie ein Grab für einen unbekannten Zuschauer. Alles dreht sich um diese Figur, aber sie selbst bleibt unbekannt. Das finde ich faszinierend.

Die Technik stellt Möglichkeiten zur Verfügung, mit welchen die bildende Kunst bislang wenig anfängt.

GROYS: Absolut nicht. Ich würde aber eher sagen, dass Kunst hier ein abstrakter Begriff ist. Künstler ist ein Massenberuf geworden. Wir hatten Zeiten, wo es wenige Künstler gab. Dann mehr, und jetzt, wie Beuys gesagt hat, durch die neuen Medien wird fast jeder zum Künstler.

Wird dass Interesse an Ausstellungen nachlassen?

GROYS: Prophezeien würde ich das nicht. Ich würde mich eher fragen, welche Position der Künstler in dieser Situation annehmen kann. Wo er auf der einen Seite mit einem explosiven Wachstum des Ausstellungswesens zu tun hat, auf der anderen mit einem explosiven Wachstum der Selbstpräsentation der Massen. Der Künstler kann heute nicht mehr stolz sein, der Massenkultur Widerstand zu leisten. Die Massenkultur kam von oben, sie wurde den Massen oktroyiert, die Massen haben diese Kultur nur passiv wahrgenommen. Jetzt machen sie diese Kultur selbst. Der Künstler hat damit seine Exklusivität verloren. Für mich ist es eine interessante Frage: Wie soll der Künstler oder auch der Intellektuelle darauf reagieren?

Wer interessiert Sie diesbezüglich?

GROYS: Francis Alys - er hat etwas thematisiert, was diese Situation genau trifft: sinnlose Verschwendung von Zeit, unproduktive Arbeit, die zu keinem Ergebnis führt, aber in ihrer Sinnlosigkeit gerade so etwas wie eine reine Subjektivität darstellt. Es wird nicht von einem Produkt aufgesaugt, es fließt nicht dort ein, wird akkumuliert und verschwindet. Wir denken häufig über die Kunst als etwas, das die Zeit frisst. Die Zeit, die es gekostet hat, ein Bild zu malen, ist irrelevant. Relevant ist bloß das Ergebnis.

Mit hohen Preisen von Kunst wird heute Bedeutung suggeriert. Bestes Beispiel: das neue Museum von Francois Pinault in Venedig.

GROYS: Ich sehe darin kein großes Problem. Das ist so wie Cartier - ein Luxusladen. Cartier und McDonald's: Was ist interessanter? Ich finde McDonald's. Diamantenhandel gab es schon bei den alten Ägyptern. Aber McDonald's gab es früher nicht. So sehe ich das auch mit Pinault - es gab schon immer Salons mit riesigen Preisen, als Luxusgeschäft. Es scheint nicht interessant zu sein. Es ist für die heutige Zeit nicht relevant, und es ist überhaupt nicht neu. Das törnt mich nicht an.

In welchen Sammlungen oder Museen halten Sie sich gern auf?

GROYS: Im „Palast der Projekte“ meines Freundes Ilya Kabakov in Essen und in Marfa, Texas, in den Installationen von Donald Judd.

Das Gespräch führte Georg Imdahl

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