Buch für die Stadt 2011Das Diktat der inneren Stimme

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Jovan Nikolic steht mit seinem Kindheits-Roman im Zentrum der Lese-Aufmerksamkeit in der ersten Dezember-Woche. (Bild: Grönert)

Jovan Nikolic steht mit seinem Kindheits-Roman im Zentrum der Lese-Aufmerksamkeit in der ersten Dezember-Woche. (Bild: Grönert)

„Mit 44 Jahren habe ich mich entschlossen, ein neues Leben zu beginnen.“ sagt Jovan Nikolic. „Das ist im Grunde kein Alter für einen Neustart, für einen Sprung ins kalte Wasser.“ Doch habe er es nicht bereut, im Jahre 1999 Serbien verlassen zu haben und nach Westen gezogen zu sein. „Ich habe in Deutschland meine Frau kennengelernt, ich fühle mich sehr wohl in Köln, denn das ist eine Stadt für die Seele – und nun bin ich auch noch Autor vom »Buch für die Stadt«. Das alles zeigt mir: Es ist nie zu spät, neu anzufangen.“

Jovan Nikolic ist ein Autor, der über einen außerordentlich reichen Fundus an lebensprallen Geschichten verfügt. Die muss er nicht der Fantasie abringen, sondern kann sie seiner Biografie entnehmen. Das bezeugt eindrucksvoll das diesjährige „Buch für die Stadt“: „Weißer Rabe, schwarzes Lamm“. Es wird in der ersten Dezemberwoche im Mittelpunkt von zahlreichen Veranstaltungen in Köln und der gesamten Region zwischen Euskirchen und Leverkusen, Bergheim und Bergisch Gladbach stehen.

Wer zu viel lese, lande in der Psychiatrie

Dann wird man einen Autor kennenlernen, der zwar schon drei Bücher auf Deutsch veröffentlicht hat, aber immer noch zu entdecken ist. Nikolic blättert das Album seiner Kindheit auf: Schnappschüsse, die sich zu einem poetischen Album zusammenfinden. Dem Autor gelingt es mit der Finesse eines Lyrikers, der er auch ist, die Szenen auf ihren oft magischen Kern zu kondensieren. Kindheitsgeschichten von Angst und Spiel in einem „Zigeunerdorf“ im ehemaligen Jugoslawien sind das, von Hühnern auf dem Fahrrad und den Augen des Lammes, von Schnaps und Aberglauben. Alt und Jung.

„Eine innere Stimme hat mir diese Geschichten diktiert“, sagt Nikolic, der 1977 seine erste Geschichte in Jugoslawien veröffentlicht hat. Viel früher schon hatte er mit dem Schreiben begonnen. Doch all diese Gedichte hielt er in einer Schublade zurück. Er sprach auch nicht darüber mit seinen Freunden: „Wäre bekanntgeworden, dass ich Gedichte schreibe, hätte man mich womöglich aus der Siedlung verwiesen.“ Denn ein echter Kerl, so die gängige Münze, reimt nicht rum.

Aus der Perspektive des kleinen Jungen wird in „Weißer Rabe, schwarzes Lamm“ die große Welt beschrieben. Das ist anrührend, originell, manchmal melancholisch und immer kraft- und kunstvoll in der Kürze. Amüsant sind die Geschichten zuweilen auch. Großartig die Tante, die stets dann erkrankt, wenn Gäste ins Haus kommen. Die dürfen dann die Arbeit übernehmen, nicht nur das Essen kochen, sondern auch, weil sie nun schon mal da sind, für Sauberkeit sorgen. Mit halb geschlossenen Augen verteilt die alte Frau die Aufgaben: „Und da in der Ecke noch, wisch nur ordentlich, der Dreck ist von hier aus zu sehen ...“

Literatur spielte früher in der Nikolic-Familie keine große Rolle. Dafür aber die Musik. Der Vater war ein „Kapelnik“, wie der Sohn erzählt. Als Altsaxofonist leitete er eine Musikkapelle, in der die Mutter als Sängerin auftrat. Während die Eltern die Gäste im Hotel unterhielten, versuchten sich die Geschwister die Angst und Langeweile auf dem Zimmer zu vertreiben. Auch davon erzählt das Buch.Er selbst hingegen ist „ein obsessiver Leser“ gewesen. Nicht wenige in der Familie hätten ihn gewarnt: „Das sei gefährlich. Wer zu viel lese, lande am Ende in der Psychiatrie.“ Nikolic hat sich aber nicht abschrecken lassen. Zumal die Geschichten von Till Eulenspiegel und vom Baron von Münchhausen haben ihn begeistert: „dieser Stil, diese Tricks“.

Deutschland sah aus wie im Märchenbuch der Brüder Grimm

Von besonderer Bedeutung waren dann noch die Grimm’schen Märchen. Nicht so sehr wegen ihrer Geschichten, sondern wegen der Illustrationen: „Die Bilder in dem Märchenbuch haben mir gezeigt, wie Deutschland aussieht. Das Buch habe ich geliebt. Ich habe es mehrmals in der Bücherei ausgeliehen – nur wegen dieser unglaublich guten Illustrationen.“ Als er dann viele Jahre später, nämlich 1981, ein erstes Mal durch Deutschland fuhr, habe er sehr gestaunt: „Im Frühherbst fuhr ich über die Autobahn und schaute nach links und schaute nach rechts. Überall sah ich diese Blätter und das Grün – und da dachte ich, dass Deutschland genau so aussehe wie im Märchenbuch. Ich hatte das Land seit meiner Kindheit schon im Kopf.“

Viele Geschichten mehr hat Nikolic zu erzählen. Nicht nur , wie es ist, als Roma zu leben. Sondern auch von seiner Flucht aus Jugoslawien. Immer schwieriger war für ihn die Arbeit als Radio-Redakteur in Belgrad geworden. Das lag vor allem daran, sagt er, dass er den Kriegsverbrecher Milosevic in seinem Kabarett-Programm öffentlich lächerlich gemacht hatte.

So entstand der Entschluss, seiner Schwester – von der im „Buch für die Stadt“ auch die Rede ist – nach Deutschland zu folgen. Dabei half ihm unter anderem ein Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung. Heute ist er Mitarbeiter von Rom e. V. in Köln.

Jovan Nikolic ist gespannt, sagt er, was in den Dezembertagen rund um das „Buch für die Stadt“ auf ihn zukommen wird. Dabei erweckt er durchaus den Eindruck, dass er die Wahl als ein Geburtstagsgeschenk versteht – denn am 7. Dezember, mitten in den Lesetagen, wird er 56 Jahre alt.

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