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Die Damen Keun

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Irmgard Keun in der Emigration um 1936

Irmgard Keun in der Emigration um 1936

Es vergehe kein Tag, an dem sie nicht an die Mutter denke, sagt Martina Keun-Geburtig. Auf den Fotos, die neben dem Sofa im Wohnzimmer hängen, ist sie ihr gegenwärtig. Oben im Schrank hängen die Pelzmäntel, die die Mutter so liebte. Inzwischen trägt auch die Tochter sie gerne. Dann natürlich ihre Bücher. „Gilgi, eine von uns“, „Das kunstseidene Mädchen“, „Nach Mitternacht“. Mit Anfang 20 hat Martina Keun-Geburtig, jetzt 52 Jahre alt, gelernte OP-Schwester, sie zum ersten Mal gelesen, vorher mangelte es ein wenig an „literarischem Gespür“.

„Sie fehlt mir“, sagt sie und zieht an einer Zigarette. „Aber die Fragen, die ich an sie hätte, die könnte sie mir eh nicht beantworten.“

Bis zu ihrem 15. Lebensjahr hat sie - mit Unterbrechungen - zusammengelebt mit jener Frau, die Anfang der 30er Jahre als literarischer Shooting Star gefeiert wurde: Irmgard Keun, Verfasserin von sieben Romanen, von Essays und Erzählungen. Ins Exil geflohen während der Nazizeit. 1940 zurückgekehrt in die Vergessenheit. Wiederentdeckt in den 70ern, nur wenige Jahre vor ihrem Krebstod im Mai 1982.

Leicht ist es niemals gewesen, das Leben der Mutter, die Tochter weiß das. Vieles in der von Brüchen und Abstürzen geprägten Biografie der Schriftstellerin Irmgard Keun ist auch für sie ein blinder Fleck geblieben.

46 Jahre ist Irmgard Keun, als am 3. Juli 1951 im St.-Anna-Hospital in Köln-Lindenthal ihre einzige Tochter geboren wird. „Die Geburt meiner kleinen Tochter Martina Charlotte zeige ich hocherfreut an. Frau Irmgard Keun“, annonciert die Schriftstellerin am 14. Juni im „Kölner Stadt-Anzeiger“. Ein Vater ist nicht genannt - eine Provokation im engen Nachkriegsdeutschland. Irmgard Keun kümmert das wenig. Hinter ihr liegen schwere Jahre, die kommenden versprechen, nicht besser zu werden. Misstrauisch hat sie, die notorisch „Unbehauste“, sich in einer Gesellschaft etabliert, die ihr ob ihrer braunen Vergangenheit bis zu ihrem Tode verdächtig bleiben wird.

Zusammen mit den betagten Eltern lebt sie in Köln-Braunsfeld. Das Haus in der Eupener Straße 19, im Familienbesitz seit 1921, ist durch den Krieg schwer beschädigt, der einzige Bruder in Russland gefallen. Ein Jahr zuvor, im Sommer 1950, ist ihr siebter und letzter Roman erschienen: „Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen“. Mit der Veröffentlichung von Feuilletons hält sie sich über Wasser. Doch Irmgard Keun kann nicht mehr an den Ruhm der frühen Jahre anknüpfen. Vorbei die Zeit, als ein begeisterter Kurt Tucholsky die junge Kollegin in der „Weltbühne“

als „deutsche Humoristin“ feierte. Als Alfred Döblin ihr bei einem Zusammentreffen in Köln eine Karriere „als beste Schriftstellerin“ Deutschlands verhieß. Der Beifall ist lange verklungen, das literarische Feuer der Irmgard Keun erloschen in den Schrecknissen des Zweiten Weltkrieges.

Mit ihrem Roman „Gilgi, eine von uns“ hatte sie 1931 erstmals auf sich aufmerksam gemacht. Endlich eine neue Stimme im literarischen Chor! 30 000-mal verkauft sich das Debüt der damals 26-Jährigen, „ein herrlich tapferes, junges, gläubiges, ehrliches, anständiges Buch“ lobt es Hans Fallada. Selbst der „New York Times“ ist das schmale Bändchen eine Erwähnung wert.

Bereits ein Jahr später, am 2. Juni 1932, kommt Irmgard Keuns zweiter Roman auf den Markt: „Das kunstseidene Mädchen“. Schon wenige Wochen später ist die Startauflage von 6000 Büchern vergriffen, bis Ende Juli druckt der Universitas Verlag in Berlin 18 000 Exemplare nach.

Im Mittelpunkt beider Werke stehen junge Frauen aus kleinen Verhältnissen, die mehr erwarten vom Leben als einen schlecht bezahlten Bürojob, Ehe und Mutterschaft. „Ein Glanz“ wolle sie sein, sagt Doris, das kunstseidene Mädchen aus einem Kölner Arbeiterhaushalt, „und schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein.“ Kaum 18, entflieht sie der Gewalt und dem Kleinbürgermief des Elternhauses und sucht ihr Glück in der Glitzerstadt Berlin. Doch keiner ihrer hochfliegenden Pläne erfüllt sich. Desillusioniert und von der Liebe enttäuscht, steht die junge Frau vor den Trümmern ihrer Träume und erkennt: „Auf den Glanz kommt es nämlich vielleicht gar nicht so furchtbar an.“

Die Biografien ihrer jungen Protagonistinnen haben wenig gemeinsam mit dem Lebensweg der Autorin. Allenfalls die Träume von einem Leben als „Glanz“ teilt sie mit Gilgi und Doris. Als Irmgard Charlotte Keun ist sie 1905 hineingeboren in die Behaglichkeit einer großbürgerlichen Familie. 1913 zieht die inzwi schen vierköpfige Familie von Berlin nach Köln, wo der Vater Teilhaber und Geschäftsführer der „Cölner Benzin-Raffinerie“ wird. Geld ist vorhanden, auch wenn sich Irmgard Keun später an eine Kindheit voller Arbeit und Mühsal erinnern will.

Nach dem Schulabschluss auf dem Mädchenlyzeum Teschner und einer Ausbildung zur Stenotypistin macht die inzwischen 20-Jährige eine zweijährige Schauspielausbildung an der Kölner Schauspielschule, ein nicht allzu ernst gemeintes Unterfangen. „Stinkfaul“ sei sie gewesen, erinnert sich Ria Hans, eine Freundin und Weggefährtin. Danach steht die Jungschauspielerin zwei Jahre in Hamburg und Greifswald auf der Bühne, doch das Theaterleben macht ihr „keine Freude mehr“. 1929 kehrt Irmgard Keun überraschend zurück nach Köln und beginnt zu schreiben.

Fotos aus jener Zeit zeigen eine pummelige junge Frau mit weichen Gesichtszügen, das Haar ist in eine pludrige Dauerwelle gezwängt. Keine Lebedame, nicht einmal eine Schönheit, aber eine Frau mit Charme und Esprit, die den Männern reihenweise den Kopf verdreht und den Genüssen des Lebens nicht abgeneigt ist. Frühzeitig unterschlägt sie fünf Lebensjahre, gibt als Geburtsjahr 1910 an, eine von zahlreichen kleinen Lügen, an der sie bis zu ihrem Tode festhalten wird.

Doch es gibt auch eine andere Seite der Irmgard Keun: Die junge Frau leidet unter „etwas krankhaft ausgeprägten Depressionen. Lust und Unlustgefühle“, schreibt sie einem Freund, „sind bei mir stärker ausgeprägt als bei gesunden Durchschnittsmenschen. Daher“, vermutet sie, „wohl auch die Neigung zum Alkohol, die aber nicht das Primäre, sondern eine reine Sekundärerscheinung“ sei.

Die Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 beendet - zumindest in Deutschland - die literarische Karriere der Irmgard Keun. Schon wenige Wochen später stehen ihre Romane auf den schwarzen Listen „zum Schutz von Volk und Staat“, die noch nicht verkauften Exemplare von „Gilgi“ und dem kunstseidenen Mädchen werden beim Verlag, in Buchhandlungen und Bibliotheken beschlagnahmt - eine Maßnahme, gegen die sie 1935 erfolglos klagt.

„Gilgi“ gilt fortan als „Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz“. „Martin, ich habe mich schon auf der Schule geschämt, wenn Deutschland, Deutschland über alles gesungen wurde, so ein widerwärtiges Lied, so fett zu sprechen, so fett zu denken, den ganzen Mund voll Lebertran“: Solche Sätze mit „staatsfeindlicher Tendenz“ möchte man nicht lesen in Hitler-Deutschland. 1936 lehnt die Reichsschrifttumskammer Keuns Antrag auf Aufnahme ab: Das Küken der deutschen Literaturszene ist zur Persona non grata geworden.

Auch privat nimmt Irmgard Keun kein Blatt vor den Mund. Krank mache sie dieses „gottverfluchte Regime“, schreibt sie im April 1933 an einen befreundeten Kollegen. Im Lokal „Marienbildchen“ in Köln-Lindenthal habe sie einmal einen Test mit den Thekenbrüdern veranstaltet, erzählt sie noch Jahre nach dem Krieg. Anhand von Fotos im „Düsseldorfer Mittag“ sollen die Gäste raten, ob die Abgebildeten ein „Verbrechergesicht“ oder ein „neues deutsches Gesicht“ haben. Alle tippen daneben, „und da habe ich höhnisch gelacht“. Der „Sahne-Schmitz“ mit der Bonbonfabrik habe sie anschließend angezeigt. Um halb sechs Uhr morgens wird die junge Frau von der Kölner Gestapo zum Verhör in den „Luisenkeller“ geholt, „und das war das Schlimmste“.

„Diese Säue!“ Auch ein halbes Jahrhundert später macht Irmgard Keun aus ihrem Hass auf die Nazis kein Hehl. „So widerlich waren mir die Männer“, erinnert sie sich im November 1981 in einem Interview mit Klaus Antes, dem damaligen Verlagsleiter des Claassen Verlages, an die Aufmärsche der Nazis in Berlin. „»Mein Führer«, das ist doch unmöglich?“

Mitte 1936 verlässt Irmgard Keun Deutschland Richtung Ostende und fühlt sich zunächst „sauwohl“. 1940 kehrt sie mit einem gefälschten Pass und unter falschem Namen zurück in ein vielfach geschundenes Land, das sie trotz allem ihre Heimat nennt. Eine Falschmeldung von ihrem vermeintlichen Selbstmord im „Daily Telegraph“ hat ihr den Weg geöffnet. Bis zum Kriegsende lebt Irmgard Keun als Charlotte Tralow versteckt bei Freunden und den Eltern in Köln und Bad Hönningen am Rhein.

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