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Echo-MusikpreisPocher, Prominenz und Peinlichkeiten

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Peter Fox ist der Abräumer des Abends. (Bild: Getty Images)

Peter Fox ist der Abräumer des Abends. (Bild: Getty Images)

Die ARD setzt weiter auf Verjüngung des Personals. Nachdem sich Florian Silbereisen, 27, als Bespaßer der „Generation Kukident“ etabliert hat und Frank Elster, 66, verlautbaren ließ, dass er Ende 2009 die Moderation von „Verstehen Sie Spaß?“ abgeben wird, dürfen am Karnevalssamstag zwei Mitarbeiter des Medienbetriebs ran, die zusammen ein Jahr jünger sind als Herr Elstner alleine: Barbara Schöneberger und Oliver Pocher präsentieren den „Echo 2009“.

Bei dem Musikpreis der Deutschen Phono-Akademie geht es vordergründig um etwas, was in der ARD nur selten oder aus Versehen stattfindet: Pop respektive populäre Unterhaltungsmusik; de facto geht es beim „Echo“ aber meistens nicht um Talent, Innovation und Leidenschaft, sondern um die Form von Beliebtheit, die anhand der Abverkäufe vom Bestsellerstapel ermittelt wird. Nun gut: Soll sich die Musikindustrie selbst feiern, so lange sie noch eine Industrie ist; mal sehen, was Frau Schöneberger und Herr Pocher in lausigen Zeiten aus der Angelegenheit machen. Gleich geht’s los…

20.14 Uhr Erster Pluspunkt: Weil die ARD die Übertragung des „Echo“ RTL abgeluchst hat, muss man Oliver Geissen heute Abend nicht ertragen. Oder tritt der etwas als Laudator auf?

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20.17 Uhr Frau Schönebergers Kleid: ein Träumchen in Lila. „Ist das schön!“, schreit sie – obwohl oder gerade weil noch gar nichts passiert ist. Oliver Pocher disst Oliver Geissen. Was ist das in Höhe von Frau Schönebergers Bauchnabel: Strass-Applikationen in Form eines Schmetterlings?

20.20 Uhr Auftritt der langlebigsten und erfolgreichsten Schülerband der Welt: U2, gegründet Mitte der 70er, spielen ihrer aktuelle Single „Get On Your Boots“. Leidlich originell: Mainstreamrock mit modern gemeinten elektronischen Momenten.

20.24 Uhr Erste Laudatoren des Abends: „Tatort“-Kommissarin Simone Thomalla und Reamonn-Sänger Rea Garvey. Hakt der Teleprompter – oder warum wirken die Sätze der beiden, als ob die Satzbaumaschine klemmt?

20.25 Uhr „Das deutsche Musikszene rockt“, sagt Rea Garvey, der sprachlich unter dem Howard-Carpendale-Syndrom leidet: Er kann viel besser Deutsch sprechen, als er das in der Öffentlichkeit tut.

20.27 Uhr Es gewinnen in der Kategorie „Gruppe des Jahres national: Ich +Ich. Womit bewiesen ist: Rea Garveys Analyse ist glatt gelogen; die Musik von Ich+Ich ist so aufregend wie ein Bausparvertrag. Wenn man weiß, wie Annette Humpe mal im Kontext von Ideal unterwegs war, kann man schier verzweifeln.

20.30 Uhr Ganz ohne Brückerl, die vor einer Pappmaché-Kulisse übers Bacherl führt, aber trotzdem da: Florian Silbereisen. Betont, dass er der „Echte“ ist. Muss er auch. Sein „Heeeey, Berlin“ klingt so, als ob Michael Kessler von „Switch reloaded“ sich gleich die Maske runterreißt.

20.36 Uhr Interviewversuch von Frau Schöneberger mit den Kastelruther Spatzen, elffache „Echo-Gewinner“ – und selbstverständlich auch heute Abend nominiert.

20.42 Uhr Was für eine Kombi: Als Laudatoren treten auf: Ina Müller und Christian Wulff. „Guten Abend, Hauptstadt“, sagt der Ministerpräsident von Niedersachsen. Ina Müller reicht Herrn Wulff ihr Lederjäckchen. „Damit’s als Rockstar klappt“, sagt Frau Müller. Herr Wulff ist sich nicht zu schade, das Jäckchen anzuziehen.

20.45 Uhr Eine weitere Station, die Paul Potts auf dem Weg zu seinem Karriereende erfolgreich absolviert: Er gewinnt in der Kategorie „Künstler des Jahres international“. Sympathisches Kerlchen, das die Risiken und Nebenwirkungen Musikindustrie hoffentlich heile übersteht.

20.49 Uhr Noch zwei Stunden: Wenn das weiterhin so aufregend bleibt wie ein Fußbad von vorgestern, fällt der Kopf gleich auf die Tastatur. Wegdämmern aus Notwehr.

20.50 Uhr Paul Potts singt noch mal seine Telekom-Werbung, diesmal in voller Länge. Könnte man sich bei RTL sicher gleich als Klingelton runterladen; die ARD indes bewahrt einen Rest von Anstand.

20.56 Uhr Es gewinnt in der Kategorie das beste Video national: Rosenstolz. „Damit hätte nun wirklich keiner gerechnet“, sagt AnNa R. Ob sie weiß, wie recht sie und wie richtig sie damit liegt? Mannometer, ist das öde.

20.59 Uhr Fürs Interview mit Depeche Mode hat sich Frau Schöneberger umgezogen. Kleider mögen Leute machen, leider aber keine Interviews. Absolutes Nullrundeninterview. Wäre es zu verwegen und zu viel verlangt, am Samstagabend in einem Zweiminuten-Interview im Kontext einer Preisverleihung wenigstens eine gescheite Frage zu erwarten? Stattdessen: doofes Groupie-Gequietsche von Frau Schöneberger in die Richtung von Martin Gore.

21.02 Uhr Campino im Duett mit der wirklich sehr guten Schauspielerin Birgit Minichmayr; „Auflösen“ heißt der Song. Ein leises Lied, ein hübsches Lied – wer hätte das gedacht?!

21.04 Uhr Oliver Pocher redet über das Label Motown. Das ist in etwa so, als ob man Lukas Podolski die Interpretation der Werke von Immanuel Kant überlässt.

21.06 Immerhin: informativer Einspielfilm über Motown. Danach: Grabesstille in der O2-Arena. „Die Leute gehen auch mit“, sagt Frau Schöneberger, „kann man doch für die ARD so sagen, oder?“ Dritter Pluspunkt des Abends.

21.08 Uhr Lionel Richie, der Mann mit der serienmäßig eingebauten Satinbettwäsche auf den Stimmbändern, nimmt, stellvertretend für das Label „Motown“, die Ehrung entgegen. Am 20. April wird Lionel Richie live in Berlin spielen. „Ein ganz besonderer Tag für uns, der 20. April“, sagt Herr Pocher. Wenn die ARD-Hierarchen fix sind, hat er in spätestens drei Wochen die nächste Abmahnung im Briefkasten.

21.14 Uhr Die wirklich sehr sympathische Stefanie Heinzmanndarf sich mit Lionel Richie duettieren, mit „Ain’t No Mountain High Enough“. Feine Idee der Musikindustrie.

21.19 Uhr In der Kategorie Jazz gewinnt: Till Brönner; es ist sein vierter Echo in Folge.

21.24 Uhr Roger Cicero gibt bekannt, dass sein neues Album „Artgerecht“ heißen wird. Trägt dazu ein rotes Hütchen. Der neue Look von Bundesbahnschaffnern? Egal. Beides, Albumtitel und Outfit, ist vor allem das: peinlich.

21.27 Uhr Ein weiteres Laudatoren-Traumpaar: Jeanette Biedermann und Arne Friedrich. Frau Biermann spricht den Namen von Kanye West „Kei-nie“ aus. Puuuh. Kann man sich da vorab nicht mal schlau machen? Die Preiskategorie: HipHop urban. Fürwahr: eine fremde Welt für den handelsüblichen ARD-Samstagabendzuschauer.

21.30 Uhr Es gewinnt: Peter Fox. Gut so.

21.32 Uhr In der Jury für den „Eurovision Song Contest“ sitzt H.P. Baxxter. Auch das noch. Dann: der klägliche Versuch, den deutschen Beitrag für Moskau ein bisschen zu pushen. Der kalifornische Musical-Darsteller Oscar Loya singt, zusammengeklempnert hat das von vorne bis hinten peinliche Lied der Produzent Alex Christensen.

21.38 Uhr Herr Pocher geht die ProSieben-Casting-Opfer „Queensberry“ ironisch an. Guter Ansatz. Muss aber ins Leere laufen. Ironie, die bekommen „Queensberry“ frühestens nach dem dritten Album beigebogen. Falls sie so viele Alben machen dürfen.

21.41 Uhr Monrose, ebenfalls ein ProSieben-Casting-Unfall, laudatieren, volkstümlich gewandet, in der Kategorie „Volkstümliche Musik“. Das Dutzend ist voll, es gewinnen die Kastelruther Spatzen.

21.44 Uhr Popmusik, verkleidet aus Hauratsversicherung. Silbermond bringen „Irgendwas bleibt“ auf die Bühne. „Gib mir’n kleines bisschen Sicherheit“, singt Stefanie Kloß. Wenn Pop-/Rockmusik derart bieder, brav und mutlos daherkommt, soll sie, bitte schön, zu Hause bleiben. Ein Song, der gar nichts will – nur Sicherheit. Dafür sind die Ramones nicht (fast alle) gestorben.

21.48 Uhr Endlich eine Laudatio mit Biss und einer angemessenen Portion Unverschämtheiten. „Bauer sucht Frau, oder wie wir sagen: Gülcan, bück Dich“, analysiert Michael Mittermeier. Kommt von Landtagswahlen über Speed und den Kastelruther Spatzen zu den Verfehlungen der Musikindustrie und der Qualität des Fernsehens.

21.52 Uhr Einige Zuschauer in der O2-Arena wachen überraschenderweise auf.

21.57 Uhr Den Part der Lindenberg-Parodie übernimmt heute Abend der Chef selbst. Udo Lindenberg singt „Woody Woody Wodka“. Ein Mann, ein Titel, ein Programm. Bisher der größte Jubel in der Halle.

22.02 Uhr Frau Schöneberger hat sich schon wieder umgezogen. Sie sieht jetzt aus wie ein rotes Knallbonbon mit schwarzer Schleife.

22.04 Uhr Es laudatieren Tim Mälzer und die Schwimm-Olympiasiegerin Britta Steffen. „Für mich der geilste Echo seit zehn Jahren“, brüllt Herr Mälzer. Der Mann weiß, was er seinem neuen Arbeitgeber schuldig ist; ab April schnellkochtopft Herr Mälzer im Ersten.

22.06 Uhr Newcomer international: Amy Macdonald. „Nach dem Erfolg in Großbritannien ist sie auch hier angekommen“, sagt Olli Briesch aus dem Off. Bei 1LIVE durfte er, zusammen mit seinem Kollegen Michael Imhof, noch das hier sagen: „Amy Macdonald, das ist die Frau, die aus einer alten Rolle Draht und einem Schaf eine Gitarre bastelt und dann darauf ihre Lieder spielt.“

22.08 Uhr Amy Macdonald tritt den Beweis an, dass man auf mit einem Bündel Stroh zwischen den Backenzähnen toll singen kann; „This Is The Life“ heißt ihr Erfolgstitel. Fröhlicher Sound für Lkw-Fahrer, die in der Windschutzscheibe ihres Trucks Blechschilder mit ihrem Namen spazieren fahren.

22.14 Uhr Den Kritikerpreis gewinnt Peter Fox, und das geht klar. Aber so was von!

22.17 Uhr Es singt: die Herzdame von Florian Silberseisen, Helene Fischer. „Ich bin ein Riesenfan“, sagt Herr Pocher. „Es ist der Song für alle Stalker, er heißt ’Lass mich in Dein Leben’, sagt Frau Schöneberger.

22.21 Uhr Neue Chance für einen klitzekleinen Personal-Unfall der ARD. Als Laudator: Bruce Darnell. Hat seinen deutschen Wortschatz von 302 auf 305 Wörter erweitert. Klingt zumindest so.

22.23 Uhr Frau Helene Fischer gewinnt einen „Echo“ in der Kategorie „Deutschsprachiger Schlager“. „Du hast Dir in der Kategorie Schlagärr durchgeschlagään“, sagt Herr Darnell. Dann küsst er Frau Fischer die Schuhe.

22.25 Uhr Frau Fischer heimst einen weiteren „Echo“ ein, in der Kategorie „Musik-DVD national“. Grabesstille in der Halle. Drama, Drama , Drama. Aber das Publikum ist wenigstens ehrlich. Frau Fischers Dankesrede: ein Desaster.

22.31 Uhr Eine der größten singenden Nervensägen in der Version 2008/2009: Katy Perry, diesmal mit „Thinking Of You“.

22.36 Uhr Anna Loos und Uwe Ochsenknecht loben und preisen in der Kategorie „Künstler national“. „Rock atmet, Rock lebt!“, brüllt Anna Loos. Sie muss es wissen, schließlich ist sie als singende Schauspielerin Fachfrau.

22.39 Uhr Es gewinnt: Udo Lindenberg. Die Dankesrede in der gewohnten Qualität, definitiv verspult-vernuschelt. Herrlich, wie er die Jugendsprache der 60er- und 70er-Jahre konserviert hat.

22.49 Uhr „Guten Morgen Berlin, guten Morgen Deutschland, ich red einfach, theoretisch kommt immer was dabei raus“, sagt Bushido. Wie gesagt: theoretisch. Und wenn einer in der Kategorie „Künstlerin national“ laudatieren darf, dann ja wohl der ehrenamtliche Frauenbeauftragte Bushido.

22.51 Uhr Unfassbar dämliche Rede von Bushido, sehr würdige Siegerin: Stefanie Heinzmann. „Kleiner Tipp an Bushido, einfach mal den Kaugummi rausnehmen“, meldet sich Olli Briesch aus dem Off.

22.54 Uhr „Bushido Schwarzer“, analysiert Frau Schöneberger, im vierten Outfit des Abends. Recht hat sie – was nichts daran ändert, dass das rote Knallbonbonkleid das beste des Abends bleibt.

22.57 Uhr Live-Weltpremiere der neuen Single, Depeche Mode mit „Wrong“. Astreine Fellmütze, die Martin Gore da trägt. Auch sonst nichts Falsches bei Depeche Mode: Stagnation auf solidem Niveau.

23.00 Uhr Bester Live-Act national: Die Toten Hosen – per Internet-Voting bestimmt von den Hörern der ARD-Radio-Jugendwellen.

23.05 Uhr Boxweltmeister Wladimir Klitschko hat die mindestens ambivalente Aufgabe, die Scorpions für ihr Lebenswerk zu lobhudeln.

23.08 Uhr „Deutscher Rock als Exportschlager, wie deutsches Bier und deutsche Autos“, fällt Offton-Sprecher Marc Bator ein. Wir geben auf, das kann man nur noch spirituell lösen.

23.13 Uhr Scorpions-Sänger Klaus Meine, the artist also known as Kappen-Klaus, übernimmt die Dankesrede.

23.14 Uhr Die Scorpions, live on stage. Wir hissen die weiße Fahne, Kapitulation. In die Richtung von Frau Schöneberger und Herrn Pocher sagen wir: ein paar nette Ansätze; in die Richtung der ARD geht dies hier raus: ein flott aufgearbeitetes Unterhaltungsformat im Ersten und das Jahr 2009, das ist ein Irrtum. Wenn nicht gar: ein großes Missverständnis. Na dann: Bis dann.

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