Erschütternde Kindheit

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Herzliche Begegnung: Bei den Schülern des Berufskolleg hinterließ der Bericht der Zeitzeugen aus Weißrussland tiefe Eindrücke.

Herzliche Begegnung: Bei den Schülern des Berufskolleg hinterließ der Bericht der Zeitzeugen aus Weißrussland tiefe Eindrücke.

Vier Zeitzeugen aus Weißrussland berichteten Schülern im Berufskolleg über ihre Erlebnisse als Kinderhäftlinge im Konzentrationslager Osaritschi.

Bergisch Gladbach - In der Klasse ist es vollkommen still. Zwanzig Schüler im Alter von siebzehn bis neunzehn Jahren hören gebannt zu, was vier Zeitzeugen aus Weißrussland ihnen über ihre Erlebnisse im Konzentrationslager zu berichten haben. Die zwei Männer und Frauen sind mit sechzehn anderen Weißrussen nach Deutschland gekommen, um Schülern aus ihrer Vergangenheit zu erzählen und aufzuklären. An diesem Tag sind sie zu Gast im Berufskolleg Kaufmännische Berufsschulen in Bergisch Gladbach.

Insgesamt fünf Klassen werden von verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Erlebnissen besucht. Vier von ihnen waren Kinderhäftlinge im Konzentrationslager Osaritschi. Michail Shukow muss tief Luft holen, bevor er mit bebender Stimme erzählt, was ihm und den drei anderen Zeitzeugen im März des Jahres 1944 widerfahren ist: Der heute 67-jährige wurde mit gerade einmal fünf Jahren mit seiner Mutter und dem zweieinhalb-jährigen Bruder in das mit Stacheldraht und Minen umgebene Lager im Sumpfland gebracht.

Im tiefsten russischen Winter bei minus zehn Grad siechten die Häftlinge dahin, es gab nichts, keine Unterkünfte, kein Essen, keine warme Kleidung. „Die Menschen wurden nur dorthin gebracht, um den deutschen Soldaten bei ihrem Rückzug als lebendiges Schutzschild zu dienen“, erklärt Gisela Multhaupt den Schülern. „Die meisten Häftlinge erkrankten früher oder später an Typhus. Etliche starben daran, die Überlebenden steckten die nachrückende Rote Armee an. Heute vermuten wir, dass alles Teil eines Plans war, eine Art biologische Waffe.“

Gisela Multhaupt ist eine Betreuerin der Gruppe. Die vier Zeitzeugen berichten den Schülern von erschütternden persönlichen Erlebnissen. Man merkt, wie schwer es ihnen fällt, sich an diese grausamen Erlebnisse zu erinnern. Jewgenija Orlowa verlor ihre zweijährige Schwester in Osaritschi. Alle standen nach ihrer Befreiung vor dem Ruin, die Familien hatten nichts mehr und mussten betteln gehen.

Von den Schülern redet keiner dazwischen, wenn Anna Dubina und Ljubov Kaloeva, zwei russischstämmige Mitschülerinnen, übersetzen. Ohne sie hätte sich der Tag schwierig gestaltet. „Es ist ein großes Glück für uns, dass wir hier unsere russisch sprechenden Mitschüler haben, die für uns übersetzen“, sagt der evangelische Religionslehrer Michael Hellweg-Brockmann. Die beiden 19-Jährigen geben sich große Mühe, die Gefühle der vier Weißrussen authentisch an ihre Mitschüler weiterzugeben.

Dann dürfen die Schüler Fragen stellen. Nach anfänglichem Zögern kommen die ersten Meldungen. Die Schüler interessiert, ob die Häftlinge je von der deutschen Regierung entschädigt worden sind. „Entschädigungen gab es schon, aber leider viel zu spät und zu wenig für die Menschen, die teils noch heute unter den Erlebnissen von damals zu leiden haben“, antwortet Gisela Multhaupt. Eine Schülerin möchte wissen, ob es Deutsche gab, die den Häftlingen geholfen haben. Arkadij Skuran antwortet: „Ein deutscher Soldat gab meiner Mutter seine Trinkflasche. Sie hat ihr vermutlich das Leben gerettet. Ich bewahre sie noch heute auf.“

„Diese Form der Hilfe war aber eher eine Seltenheit“, fügt Gisela Multhaupt hinzu. „Generell bestand kaum Kontakt zwischen Soldat und Häftling.“ Viele Fragen folgen, die Schüler sind sichtlich interessiert an den Antworten. Am Ende betonen die Zeitzeugen noch einmal, wie wichtig ihnen ist, dass die Deutschen verstehen, dass sie trotz allem keinerlei Hassgefühle für sie empfinden. Im Gegenteil, es geht ihnen darum, dass vor allem die Jugendlichen erfahren, was damals geschehen ist, damit sich solche Ereignisse nicht wiederholen können.

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