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Es muss etwas passieren, sofort

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Das „Netzwerk Jugendszene Lev“ macht auf die dramatisch zunehmende Armut bei Kindern und Jugendlichen aufmerksam und fordert schnelle Hilfe.

Jürgen Witthohn blickt ein wenig versonnen auf den Weiher hinter dem Jugendhaus Lindenhof. „Früher fuhren auf diesem kleinen Gewässer die Leverkusener mit Bötchen und amüsierten sich“, erinnert sich der Leiter der Jugendeinrichtung in Manfort an bessere Zeiten. Früher, das war, als in diesem Gebäude an der Weiherstraße befrackte Kellner im Kasino der Firma Wuppermann Gäste bedienten. Früher, als in diesen Räumen der Wuppermann-Nikolaus den Kindern Kniestrümpfe, Äpfel und Schokolade schenkte, als Feste gefeiert, als gesungen, getanzt und Theater gespielt wurde. Früher, als es Leverkusen und fast allen Leverkusenern noch gut ging.

Mittlerweile leben von insgesamt etwa 20 000 Kindern und Jugendlichen in der Stadt rund 4300 in Armut. „Das sind 20 Prozent. Damit liegen wir weit über dem Durchschnitt“, erklärte Rüdiger Porsch vom Haus der Jugend in Opladen gestern anlässlich eines Pressegesprächs. Bundesweit gelten rund 14 Prozent aller Kinder als arm. Es ist erschreckend. Immer mehr Menschen geraten finanziell unter Druck. Immer mehr Eltern können weder Schulbücher kaufen noch das Essen in der Schule bezahlen. Die Armut wächst, Leidtragende sind vor allem Kinder und Jugendliche. Das sehen und erleben die Verantwortlichen des „Netzwerk Jugendszene Lev“ Tag für Tag aus nächster Nähe. Der Organisation gehören 16 Leverkusener Jugendeinrichtungen an, die pro Tag nach eigenen Schätzungen von 800 bis 1000 Kindern und Jugendlichen besucht werden.

„Es geht nicht nur die materielle Armut, es geht um Bewegungs-, Bildungs-, ja, emotionale Armut“, erzählt Brigitte Stauf vom Kinder- und Jugendhaus Christus König in der Windhorststraße und erntet Kopfnicken, auch von Hendrik Käseberg. Er betreut den Nachwuchs im offenen Jugendtreff in der Derr-Siedlung und macht darauf aufmerksam, dass es den Leverkusener Einrichtungen an materieller und personeller Unterstützung fehle.

„Wenn der Sozial- und Jugendarbeit wieder mehr Mittel zur Verfügung stünden, könnte sie ein bedeutender Stützpfeiler im Kampf gegen die ständig steigende Kinderarmut sein“, meint Reiner Hilken vom Jugendzentrum Bunker. Gemeinsam mit den Kollegen des Netzwerks richtet er daher einen eindringlichen Appell an Leverkusen und seine Politiker: „Es muss etwas passieren, möglichst sofort.“

Seit geraumer Zeit übernehmen die für alle Leverkusener Kinder- und Jugendlichen offenen Einrichtungen weit über ihre ursprüngliche Aufgabe, den pädagogischen Auftrag zu erfüllen, hinaus gehende Anforderungen: „Jeden Tag kommen Kinder, die haben richtig Hunger und bekommen bei uns Essen“, verdeutlicht Brigitte Stauf die dramatische Entwicklung anhand dieses Beispiels. Und Rüdiger Porsch macht darauf aufmerksam, dass dem Haus der Jugend in Opladen in den Jahren 1991 bis 1993 monatlich umgerechnet rund 1300 Euro zur Verfügung gestanden haben. Nun seien es 380 Euro pro Monat, versichert Porsch. Davon müsse nun auch noch das Essen finanziert werden. „So, wie es nun seit Jahren in Leverkusen läuft, so geht es nicht weiter“, erklärt Reiner Hilken. Wem in Leverkusen etwas an Kindern und Jugendlichen liege, der müsse nun aktiv werden, richtet das „Netzwerk Jugendszene Lev“ einen eindringlichen Appell an die Politik, aber auch an jeden einzelnen Bürger. „Wir können alle etwas gegen die zunehmende Armut bei Kindern und Jugendlichen tun“, sagt Jürgen Witthohn und blickt wieder versonnen auf den Weiher hinter dem Jugendhaus Lindenhof.

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