Spaziergänge in und um KölnSüchtig nach dem Horizont

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Spazierengehen hieß bei uns ins Auto steigen. Sonntags. Fernseher aus, rein in den Wagen, ab in den Wald. Die Familie war komplett, und deren Zusammenführung an frischer Luft die versuchsweise Annäherung an eine bürgerliche Bewegungspraxis. Das Mindestmaß an Konservatismus, den wir uns geleistet haben. Es gab glücklicherweise keinen Dresscode. Keinen Hut, keinen Sonnenschirm, kein Sonntagskleidchen. Wie zu Zeiten, als der Spaziergang nachgerade erfunden wurde. Man kennt die Bilder von Carl Spitzweg, der die Biedermeier-Ausflugsgesellschaft in schauriger Beschaulichkeit festgehalten hat: Wohlanständig zieht die Bourgeoisie aus, um das private Idyll zu feiern. Der dicke Vater vorneweg.

Im Arbeitermilieu in den 1950ern, durch die mein Vater gestriegelt den Eltern hinterdrein lief, galt auch noch die Pflicht zur einwandfreien Garderobe. Einmal in der Woche ging es zum frömmelnden Smalltalk durchs Dorf. Und bloß nicht schmutzig machen! Wir, mein Bruder und ich, hätten uns sicher schmutzig machen dürfen, sahen aber keinen Anlass dazu. In meinen Erinnerungen ist es immer Herbst. Wir schlurfen mit hochgezogenen Schultern und dem Kinn auf der Brust durchs Laub. Letztlich fanden wir es nicht so scheußlich, wie es unser ritualisiertes Genöle glauben machen konnte. Die Waldfrische legte sich lindernd auf unsere hitzigen Pubertätsköpfe. Es war okay.

Spaziergänger leben gesünder. Grundsätzlich wird Erwachsenen empfohlen, täglich 10 000 Schritte zu gehen. Wer das schafft, der verbrennt zwischen 2000 und 3500 Kalorien zusätzlich pro Woche. Man geht davon aus, dass in 30 Minuten 3000 Schritte gegangen werden. Sportmediziner und Wissenschaftler bestätigen, dass ein Spaziergang den Blutdruck senkt und das Risiko von Diabetes, Schlaganfall und Herzinfarkt reduziert. Waldluft scheint übrigens besonders geeignet, wie eine koreanische Studie belegt. Die Ärzte überprüften die Probanden vor und nach dem Gang. Bei Waldspaziergängern war der Blutdruck gesunken, die Lungenkapazität vergrößert und die Elastizität der Arterien besser. Bei den Stadtspaziergängern wurde kein Unterschied gemessen. (ihe)

Ich habe danach nicht mehr übers Spazierengehen nachgedacht. Ich weiß, dass die Art der Fortbewegung medial mal totgesagt wurde, weil angeblich alle Welt joggt. In Wirklichkeit geht alle Welt am Rhein entlang. Von den 17 Millionen Deutschen, die laut Statistik mehrmals in der Woche spazieren gehen, steuern die meisten sonntags zwischen drei und vier die Kölner Rheinpromenade an. Selbst in der kalten Februarsonne schwappen sie ans Ufer, suppen über die Gehwegränder, was meinem Kollegen eine Bemerkung wert war. Warum gehen alle spazieren und immer an selber Stelle? Es schwang mittelgroße Empörung mit. Zu diesem Thema kann man heutzutage Profis befragen, Promenadologen.

Spaziergangsforschung

Also machen wir uns die Freude: In den 1980er Jahren entwickelte der Soziologe Lucius Burckhardt die Spaziergangsforschung, die er im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung an der Universität Kassel unterrichtete. Genauso wie Studiengänge mit ähnlich beschwingten Titeln, etwa Coffeemanagement oder Singen mit Kindern, hat auch Spaziergangsforschung einen durchaus seriösen Anlass. In diesem Fall die Entfremdung des Menschen von der Natur. Schuld an jener Entfremdung gibt die Wissenschaft der Eisenbahn, den Autos, den Flugzeugen. Alle folgen heute GPS. Abhandengekommen sei uns die erlaufene Wahrnehmung der Welt. Die gilt es zu retten.

Wenn wir uns die Wahrnehmung dann sonntags wieder besorgen wollen, erinnern wir uns an den Ort, der uns am tauglichsten erscheint. Der Rhein zum Beispiel, weil er dem überlieferten Begriff einer Landschaft nahe kommt. Und da wollen wir ja hin. An den idealen Ort, dessen äußere Harmonie in unser Innerstes strömt. Aber wenn man dem Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar glaubt, ist der Rhein nur das Klischee einer Landschaft. Davon lassen wir uns alle einlullen, alle. Und dann reihen wir uns ein, in die Andachtspolonaise.

Dabei gäbe es unendlich viele Ausweichmöglichkeiten. Der Rheinspaziergang sei etwas für Anfänger. Nur für Menschen, die glauben, das Innerstädtische sei landschaftslos und des Umherwandelns nicht würdig. In diesem Zusammenhang sei der Titel einer Dissertation erwähnt, die zum hier behandelten Thema veröffentlicht wurde: „Nur wo der Mensch die Natur gestört hat, ist sie schön.“ Das heißt: Köln müsste vor schönen Spazierwegen strotzen. Weisshaar schlägt etwa vor, entlang der Nord-Süd-Fahrt zu laufen. Und spätestens da muss ernsthaft die Frage nach der wissenschaftlichen Definition eines Spaziergangs gestellt werden. „Die gibt es nicht“, behauptet Weisshaar, was aber unerheblich sei. Es komme auf den Typ des Spaziergängers an.

Es gibt Spaziergänger wie Immanuel Kant einer war. Ein Routinier, der jeden Tag zur selben Zeit dieselbe Strecke lief. Ludwig van Beethoven, der Selbstvergessene, wurde eines Abends in einem Wiener Vorort verhaftet, weil ihn die Leute für einen Landstreicher hielten. Johann Wolfgang von Goethe war der geborene Entschleuniger: „Ich ging im Walde | so für mich hin,| und nichts zu suchen,| das war mein Sinn.“

Die Literatur- und Kunstwissenschaft ist voll von Versuchen, Spaziergänger zu klassifizieren. Beziehen wir uns zunächst mal auf Jean Paul als Vertreter der Romantik, der das große Privileg hatte, im Dessau-Wörlitzer Gartenreich zu ambulieren („O wie wenig fehlt mir zur höchsten Seeligkeit“). Mit diesem Garten wurde nicht weniger als die Aufklärung in Landschaft übersetzt – und man ahnt: In dieser Zeit war Haltung noch wichtig. Jean Paul teilte Spaziergänger in vier Kategorien ein: Die nicht bloß mit den Augen sehen, sondern mit dem Herzen, sind die Guten. Es folgen die Spaziergänger, die sich von ästhetischem Interesse an der Landschaft leiten lassen. Für jene, die sich nur aus „Mode und Eitelkeit“ auf den Weg machen, hatte er nicht viel übrig. Am Schlimmsten aber fand er die „Gelehrten und Fetten“, die es tun, weniger um zu genießen, als um zu verdauen, was sie schon genossen haben“. Letztere haben heute einen besseren Ruf.

Unter zeitgenössischen Kulturforschern hat Wolfgang von der Weppen einen differenzierteren Beitrag geleistet. In „Der Spaziergänger. Eine Gestalt, in der Welt sich vielfältig bricht“ beschreibt er den Horizontsüchtigen, den vertraulichen Spaziergang, den schweifenden, den ordnend-beschaulichen – und endlich auch den urbanen, der sich an den „Konvulsionen der modernen Welt“ ausrichtet. Siehe Nord-Süd-Fahrt.

Ein geübter Rheinspaziergänger könnte noch beliebig viele Typen hinzufügen: Die Frischverliebten, die so lange spazieren gehen, bis der eine endlich stehen bleibt, um weiterzukommen, küssend. Den einsamen Spaziergang, um zur Schau zu stellen, dass man es mit sich selbst aushält. Den Spaziergang, bei dem ungestört miteinander geredet werden kann, weil andere immer nur Wortfetzen auffangen. „Dann hatte er nur noch das Unterhemd...“ „Weiß sie denn davon?“ „Nein, auf keinen Fall mit Mayo.“ Wer Glück hat, begegnet ihnen zweimal – und erhascht die Fortsetzung.

Noch nicht in der Fachliteratur gefunden habe ich den Spaziergänger mit Kleinkind. In meinen Augen die höchste Spaziergangskunst. Der Aufwand, zumal im Winter, steht im umgekehrten Verhältnis zur Reichweite (Beine in Strumpfhosen manövrieren, Hose, doch, die Jacke, doch, es ist kalt, Mütze, von mir aus kannst du den Bären mitnehmen). Und dann muss man sich innerlich gänzlich leeren. Gestoppt wird gleich hinter der Tür wegen zweier Steine. Klitzekleiner Steine. Oder wegen des Spaltes dazwischen. Es gibt kein Ziel. Nur einen Endpunkt. Dann, wenn die kriechende Kälte nicht mehr abzuwehren ist und man das Kind unter Gezeter nach Hause trägt. Das Kind zwingt zur Kapitulation. Zu einem absichtslosen Spazieren-Stehen. Es ist der Zustand, nach dem der berühmte Spaziergänger Jean-Jacques Rousseau immer gesucht hat. Ein Zustand, „in dem man weder auf das Noch-Nicht hoffen, noch sich nach dem Nicht-Mehr sehnen muss“. Die vollendete Gegenwart. Er hätte seine Kinder nicht ins Waisenhaus schicken, sondern einfach mit ihnen spazieren gehen sollen. Er wäre glücklicher gestorben. (Es war während eines Spaziergangs, da fiel er tot um.)

Ich indes freue mich, wenn mein Kind ins fernsehtaugliche Alter kommt, wir sonntags Cartoons gucken, uns dann ins Auto setzen und ein paar Schritte durch den Wald gehen. Nur so.

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