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Rheinland für EntdeckerAuf den Spuren des toten Eifel-Dorfs Wollseifen

Lesezeit 7 Minuten
Vogelsang NS-Ordensburg Luftbild Franz Küpper

Ein Luftbild zeigt die Anlage von Vogelsang - früher NS-Ordensburg.

  • In unserer Serie „Rheinland für Entdecker“ geben wir Tipps für Ausflüge und Kurzurlaube in unserer Heimat.
  • Diesmal geht es in die Eifel, in ein Dorf, das 1946 verschwand. Zeitzeugen haben Erinnerungen an die Geschichte wach gehalten.
  • Warum Wollseifen heute ein besonderer Ausflugstipp ist, lesen Sie in unserer Reportage.
  • Hier finden Sie auch alle bereits erschienenen Ausflugstipps aus unserer Serie „Rheinland für Entdecker".

An der Ruine einer alten Kirche sitzt eine Gruppe Senioren auf Bierzeltbänken vor einem behelfsmäßigen Altar. Der Klapptisch ist mit Fliederblüten und einer Kerze geschmückt. Durch die verstaubten Fenster fällt Licht auf das unverputzte Mauerwerk der Kirchenwände und die vom Schutt befreiten Fliesen des Kirchenbodens.

Zwei Dutzend Mitglieder des Förder- und Traditionsvereins Wollseifen haben sich in der Pfarrkirche St. Rochus zum Seniorentag getroffen. Sie warten auf den Pastor, der eine Andacht mit ihnen feiern will. Doch der Pfarrer kommt nicht. Daher werden die Klappbänke wieder in den Transporter vor der Kirche verstaut. In einer Nische mit der Figur und einem Bild des Heiligen Rochus, Schutzpatron der Kirche und des einstigen Dorfes, werden noch einige Teelichter angezündet. Dann geht es zurück zum Wanderparkplatz Walberhof am Eingang der früheren belgischen Kaserne Vogelsang.

Immer wieder wandert der Blick zum Berghang gegenüber. Vor allem der düstere Bergfried der einstigen NS-Ordensburg Vogelsang, in der der Führungsnachwuchs der NSDAP ausgebildet wurde, ist weithin zu sehen. Als 1500 Arbeiter 1934 damit begannen, auf der 100 Hektar großen Fläche die vom Kölner Architekten Clemens Klotz entworfenen Monumentalbauten aus dem Boden zu stampfen, begann das Unheil, das zwölf Jahre später die Wollseifener zu Vertriebenen machte.  

Was am 1. September 1946 geschah

Wenn schon keine Andacht, dann wenigstens das Zusammensitzen in einem Café im benachbarten Herhahn. Es folgt das Erinnern an Familienangehörige, Freunde und Nachbarn. Und an den schicksalhaften 1. September 1946, als nach dem drei Wochen zuvor erlassenen Räumungsbefehl der britischen Militärregierung die Geschichte eines alten Bauerndorfs endete, das schon im 12. Jahrhundert geschichtlich erwähnt wurde. 120 Familien, 550 Männer, Frauen und Kinder gingen mit ihrer transportablen Habe, dem Vieh und der Ernte auf Herbergssuche. Ihr Dorf, ihre Äcker und Wiesen wurden ebenso wie Vogelsang zum Truppenübungsplatz.

Heute, mehr als 70 Jahre nach den traumatischen Erlebnissen, leben die meisten der Zeitzeugen nicht mehr. Etwa Fritz Sistig, dessen Vater den Schwestern den Auftrag gab, das Haus vor dem Verlassen gründlich zu putzen und den Schlüssel von außen auf die Tür zu stecken. Weil man ja ganz sicher bald zurückkehren werde.

Erinnerungen an das tote Dorf Wollseifen

Zurückgekehrt sind die Wollseifener nie. Der Ort über der Urfttalsperre am Rande der Nordwesteifel wurde zum toten Dorf. In den Landkarten war es nur noch als „Wüstung“ verzeichnet, die Wege dorthin waren versperrt. Die Häuser wurden nach und nach dem Erdboden gleichgemacht. Nur vier Relikte sind übrig: das von den früheren Bewohnern instand gesetzte Wegekapellchen am früheren Ortseingang, eine alte Trafostation, das Erdgeschoss der früheren Dorfschule, das eine interessante Dokumentation der Geschichte Wollseifens beherbergt, und die wetterfest gemachte Kirchenruine. Deren weithin sichtbarer Turm lockt heute viele Wanderer im Nationalpark Eifel an. Als die Kirche am Fronleichnamstag 1947 bei Schießübungen des britischen Militärs in Brand gesetzt wurde, war auch dem letzten Wollseifener klar geworden, dass sie endgültig Vertriebene sein würden.

Einer von denen, die mitgeholfen haben, die Erinnerung an Wollseifen wachzuhalten, ist der Stolberger Hans-Georg Stump. Als am 1. Januar 2006 nach 60 Jahren der Truppenübungsplatz Vogelsang, auf dem unter belgischer Verwaltung Nato-Truppen übten, einer zivilen Nutzung übergeben wurde, sei er in einem Fernsehbericht auf Wollseifen aufmerksam geworden. Der Anblick der Kirchenruine habe ihn elektrisiert. Und er nahm Kontakt zum Verein auf.

Streit um Entschädigung

1962 hatten sich die früheren Bewohner darin zusammengeschlossen, um für eine gerechte Entschädigung zu streiten. Jahrzehntelang bestand die frühere Dorfgemeinschaft in diesem Verein weiter, obwohl die Wollseifener über die ganze Region und darüber hinaus verstreut worden waren. Bis heute treffen sie sich im Sommer zum Patronatsfest im Nachbarort Herhahn.  Auf dem dortigen Friedhof ruhen auch die Toten von Wollseifen, die 1955 umgebettet wurden.

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Dem belgischen Militär ist es zu verdanken, dass die ausgebrannte Kirchenruine wieder ein provisorisches Dach erhielt. So überstand sie die Jahrzehnte im Eifelwetter, bis sie ab 2008 mit finanzieller Unterstützung durch die NRW-Stiftung von den Ehrenamtlern des Förder- und Traditionsvereins als Ruine restauriert wurde.

Heimatverbundenheit der Wollseifener

Zu den unermüdlichen Helfern gehörte Stump, der heute die Geschäfte des Vereins führt. Er war nicht nur beeindruckt von der ganz besonderen Atmosphäre an diesem Ort. „Vor allem den Zusammenhalt und die Heimatverbundenheit der Wollseifener bewundere ich.“ Mit dem Sistiger Kunstschmied Stefan Pütz, der den in einer Scheune im Nachbarort versteckt gehaltenen Wetterhahn des Kirchturms aufarbeitete, betrachtet er vor der Kirche das Relief, das die früheren Häuser des Ortes zeigt. Deren Grundmauern sind im Erdreich und im Dickicht verschwunden. Doch die aufgestellten Straßenschilder geben eine gewisse Vorstellung von der räumlichen Ausdehnung des Ortes.

Mit der Restaurierung der Wegekapelle und der einst zweigeschossigen Volksschule sowie der Einrichtung einer Dokumentation in zwei Klassenräumen sind die größeren Projekte des Vereins abgeschlossen. „Das ist gut so“, sagt dessen Vorsitzender Wilfried Ronig: „Denn heute sind es nur noch rund 100 Mitglieder. Und der Altersdurchschnitt geht an die 80.“

Symbol für Vertreibung

Ein Wunsch der ehemaligen Wollseifener hat sich erfüllt. Ihr Ja zur Gründung des Nationalparks Eifel nach der Aufgabe des Truppenübungsplatzes 2006 verbanden sie mit dem Wunsch, dass ihr Dorf ein Ort zum Nachdenken werden sollte. Das Ensemble, das die Kirchenruine mit der Straßenzeile der Übungsgebäude bildet, in denen die Soldaten Häuserkampf übten und die heute Fledermäusen Unterschlupf bieten, ist zum Symbol für Vertreibung geworden. Zum Mahnmal, sich den Anfängen von Gewaltherrschaft  zu widersetzen. Wer sich umdreht, blickt auf eine Barackenunterkunft, in der heute Flüchtlinge betreut werden.

Alle Teile der Serie Rheinland für Entdecker finden Sie auf unserer Sonderseite:  www.ksta.de/freizeit/ausflug/entdecker

Tipps für einen Ausflug nach Wollseifen:

Anreise: Erreichbar ist die Haltestelle Walberhof mit dem Nationalpark-Shuttle Kall-Gemünd-Vogelsang (SB82) sowie der Nationalparklinie 63 Simmerath-Vogelsang-Schleiden. Zwischen April und Oktober kutschiert Horst Steffens an jedem ersten und dritten Sonntag jeweils um 11.30 Uhr und 14.15 Uhr ab dem Forum Vogelsang IP mit Pferdegespannen Besucher nach Wollseifen (auch für Rollstuhlfahrer): Hin- und Rückfahrt Erwachsene 10 Euro, Familientarif 25 Euro. Die Nationalparkverwaltung bietet außerdem Touren mit Begleitung durch einen Waldführer an.

Tipps für Wanderer: Sportliche Zeitgenossen können von Einruhr aus  zur Rundwanderung über Wollseifen und die Urftstaumauer starten. Auf der etwa fünfstündigen Wanderung sind etwa 400 Höhenmeter zu bewältigen. Dafür werden die Wanderer unterwegs mit einem der schönsten Aussichtspunkten in der Gegend und dem Panoramablick auf die Urftstaumauer belohnt. An der Staumauer befindet sich eine Gastronomie. Von der Anlegestelle der Rursee-Schifffahrt  kann man nach Rurberg und von dort über den Obersee zurück nach Einruhr fahren.

Informationen: Ausgangspunkte für den Weg ist der Wanderparkplatz Walberhof am Vogelsang-Kreisverkehr der B266 (zwischen Gemünd und Einruhr).  Wollseifen gehört zu Schleiden und liegt drei Kilometer entfernt von Vogelsang: Internationaler Platz im Nationalpark Eifel. Die Ruine der Pfarrkirche St. Rochus und die Dokumentation im alten Schulgebäude sind tagsüber geöffnet.

Weitere Tipps: Einkehrmöglichkeiten gibt es zum Beispiel in Einruhr am Obersee. Hier findet sich auch ein Naturerlebnisbad. Ein bei Touristen beliebter Anlaufpunkt ist ebenfalls der Kneippkurort Gemünd, das südöstliche Tor zum Nationalpark Eifel. Gemünd hat viele Wanderwege. Radfahrer können entlang der Urft bis zur Urftstaumauer radeln.

Geheimtipp Gastronomie: Geheimtipp ist das vier Kilometer von Vogelsang entfernte Bauerncafé „Morsbacher Hof“ (Schleiden, Morsbach 20), das täglich von 9 bis 18 Uhr geöffnet hat (Ruhetag Dienstag). www.morsbacher-hof.de

Schlechtwettertipp: Die Erlebnisausstellung „Wildnis(t)räume“ bietet auf 2000 Quadratmetern Impressionen aus dem Nationalpark. Die Dauerausstellung der NS-Dokumentation beleuchtet die Geschichte der Anlage. Einen Panoramablick auf den Urftsee und die Wälder des Nationalparks bieten der Aufstieg über 172 Stufen auf den Turm und auch die Gastronomie (tägl.  10 - 17 Uhr).

Tipps für Vogelsang: Neben einem Rundgang durch die historische Anlage lohnt ein Besuch im Rotkreuz-Museum oder eine Sternenwanderung mit Harald Bardenhagen von der Astronomie-Werkstatt „Sterne ohne Grenzen“. Der Blick in die Milchstraße ist einzigartig.

www.foerderverein-wollseifen.de www.rurseeschifffahrt.de www.kutsche-steffens.de www.vogelsang-ip.de www.sterne-ohne-grenzen.de Bestellung „Rheinische Landpartie": In dem Magazin Landpartie finden Sie auf 148 Seiten die 36 schönsten Landausflüge und Geschichten zum Nachlesen und -erleben. Entdecken Sie so das Lüttich von Kommissar Maigret, die Menschheitsgeschichte im Neandertal oder das Land der schlafenden Vulkane in der Eifel und vieles mehr. Jetzt für 9,80 € versandkostenfrei bestellen: www.ksta.de/Landpartie2019 oder telefonisch unter 0221/224 23 22 (werktags von 8 bis 18 Uhr). 

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