Familienknatsch an FeiertagenWie wir alte Muster und Probleme überwinden können

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Die Psychologen Damaris Sander und Peter Wehr

  • An den Festtagen fallen wir oft in Muster aus der Kindheit zurück: Das kann schön, aber auch anstrengend sein.
  • Unsere „In Sachen Liebe”-Psychologen Damaris Sander und Peter Wehr erklären, wie wir damit umgehen und dem alten Film ein neues Ende geben können – und welche Fehler wir vermeiden sollten.

Frau Sander, Herr Wehr, nach Weihnachten sind die Fitnessstudios voll mit Menschen, die ihr Leben ändern wollen. Gilt das auch für die Praxen von Psychotherapeuten?

Peter Wehr: In der Tat ist die Anmelde-Quote für Paartherapien in der Zeit nach Weihnachten besonders hoch, der Beratungsbedarf erhöht.

Gibt es eine Art Weihnachts-Syndrom, einen Christmas-Komplex?

Peter Wehr: Defizite oder Konflikte in der Partnerschaft kommen an den Feiertagen verdichtet heraus, werden als besonders schmerzlich erfahren: „Meine Frau hat Weihnachten wieder so durchgezogen, wie sie es immer getan hat – ohne Rücksicht auf mich…“ Aber ein Syndrom? Nein! Kein einziges Problem in einer Partnerschaft wäre gelöst, wenn man Weihnachten einfach abschaffen würde.

Damaris Sander: Ganz genau! Mich nervt diese Marotte, Weihnachten selbst zu einem Problem zu erklären. Nehmen wir doch einfach erst einmal wahr, was mit uns passiert: Weihnachten ist ein kollektives Ereignis, das von einer Fülle religiöser, kultureller und auch privater Riten überformt ist, von ganz genau festgelegten Abläufen in den Familien beispielsweise. Das begünstigt eine Regression, also ein Zurückfallen in frühere, oft kindliche Erlebnis- und Verhaltensweisen. Wenn Erwachsene auf einmal wieder zu Kindern werden, birgt das Chancen und Risiken. Zu den Chancen gehören das Erleben starker Emotionen, das Gefühl des Eingebundenseins in eine Gemeinschaft, Geborgenheit, das Loslassen, das Auftanken. An Weihnachten darf es auch mal sehr gefühlvoll oder sogar kitschig zugehen. Emotionen finden Raum, die sonst eher verdrängt werden. An Weihnachten ist das gesellschaftlich akzeptiert. Das ist auch ein Grund, warum nach Weihnachten so viele Leute zu uns kommen: Sie haben plötzlich etwas in sich gespürt, was sonst verschüttet oder zugekleistert ist. Jemanden, der sagt, „läuft doch alles super“, den können Sie nicht beraten. Wer aber selber einen Leidensdruck wahrnimmt, dem ist auch zu helfen.

Peter Wehr: Man kann sich Weihnachten vorstellen wie das Hinabgleiten eines Fahrstuhls in die Tiefen unserer Kindheitserfahrungen. So können schöne Erlebnisse aus der Kindheit aktiviert werden. Wir können Weihnachten wieder mit unseren Kinderaugen sehen, den damals gefühlten Zauber wahrnehmen und genießen. Es können uns aber aus weniger schöne Erlebnisse wiederbegegnen, unerfüllte Sehnsüchte, Enttäuschungen, Familienstreit. Dann entsteht womöglich eher ein beklemmendes Gefühl, das wir vielleicht gar nicht so richtig einordnen können, das uns aber die Laune verdirbt, so dass wir eher fliehen möchten – und damit den anderen die Laune verderben.

Damaris Sander: Zu den vorhin erwähnten Risiken gehören auch das Aufleben fieser alter Erfahrungen von Ohnmacht, Enttäuschung, Verletzung, Demütigung – oder das Hineinrutschen in unliebsame Verhaltensweisen, die man für sich selbst längst überwunden geglaubt hatte: Der Trotzkopf, die beleidigte Leberwurst, der Dauernörgler, die immer zu kurz Gekommene – sie alle kommen an Weihnachten neu zur Welt, so sicher wie das Jesuskind sozusagen.

Wie lässt sich an Weihnachten der Rückfall in destruktive kindliche Muster verhindern?

Peter Wehr: Die problematischen Situationen sind ja selten neu. Die meisten werden auch schon in vergangenen Jahren vorgekommen sein. Man könnte sie sich also einmal im Vorhinein vergegenwärtigen, sich beispielsweise fragen: Wie habe ich bisher reagiert, wenn mein Vater dieses oder jenes gesagt hat? Und was könnte ich diesmal anders machen? Das kann eine Hilfe sein, aus diesem Automatismus auszubrechen, der uns scheinbar zwingt, immer wieder dieselben Fehler zu machen.

Damaris Sander: Das Drehbuch umschreiben, dem alten Film ein neues Ende geben, das wäre auch mein Tipp. Es geht immer darum, zu reflektieren, was genau dieses Zurückfallen ins Kindsein auslöst, und dann zu schauen: Was kann ich dem entgegensetzen? Wie kann ich erwachsen bleiben, den Überblick behalten, flexibel reagieren, die Dinge abwägen?

Peter Wehr: Den Ablauf von Weihnachten planen, Absprachen treffen, Bedürfnisse klären – das sind alles Strategien, die den Erwachsenen-Anteil in uns stärken.

Damaris Sander: Langfristig besteht die Aufgabe darin, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte das ganze Jahr über ernst zu nehmen, damit sie nicht an Weihnachten wie der Springteufel aus der Kiste hüpfen, nach dem Motto: Jetzt muss für einen Tag das Familienfeeling, die Harmonie her, die ich an 364 Tagen vermisst habe.

Peter Wehr: Ich glaube, viele Menschen haben es in ihrer Herkunftsfamilie nicht gelernt, sich ein entspanntes Weihnachtsfest zu organisieren. Dann ist genau das die Herausforderung für Paare und Familien: Wir machen uns ein schönes Fest! Nicht das schönste Fest des Jahres, solch ein Perfektionismus macht nur Druck, aber eben doch ein schönes Fest.

Aber ist nicht gerade das die Ursache dafür, dass Weihnachten ein so großes Konflikt-Potenzial birgt? Es muss schön werden, es soll harmonisch zugehen, es soll alles wie immer sein – und das geht dann erst recht schief.

Damaris Sander: Je fester man die Tür zudrückt, desto heftiger wird dagegen gebollert. Das stimmt schon. Aber man kann den Druck ja auch herausnehmen. Tradition sind kein Zwang, sondern ein Angebot.

Fünf Weihnachts-Tipps

Besprechen Sie die Abläufe rechtzeitig vorher. Planen Sie Auszeiten und Rückzugsmöglichkeiten ein.

Erwartungsbrüche sind erlaubt. Fangen Sie damit aber nicht erst Heiligabend an, und kommunizieren Sie offen.

Klammern Sie schwelende Konflikte bewusst aus. Sparen Sie sich die kleinen und großen Sticheleien.

Überlegen Sie sich vorher die Situationen oder Gespräche, in denen Sie typischerweise gereizt reagieren. Und schreiben Sie das Drehbuch Ihrer eigenen Verhaltensmuster um.

Vermeiden Sie Perfektionismus. Weihnachten muss nicht das schönste Fest überhaupt werden. Ein schönes Fest ist schon sehr viel.

Es wird von Müttern oder Großmüttern berichtet, denen das Weihnachtsessen für die versammelte Familie einen solchen Stress darstellt, dass weder sie noch die anderen es am Ende wirklich genießen können. Diesen Familien wird Tradition kaum als Angebot vorkommen.

Damaris Sander: Trotzdem gibt es Alternativen. Die erwachsenen Kinder könnten ihrer Mutter vorschlagen, es mit dem Essen mal anders zu machen als in den Vorjahren.

Peter Wehr: Jeder trägt etwas bei, bringt etwas zum Essen mit. Mit dem Risiko, dass denen, die sonst immer gekocht hatten, das Lob für ihr Traditionsmenü entgeht (lacht). Festgefügte Rollen und Rollenerwartungen sind ein großes Thema an Weihnachten. Es ist wichtig zu erkennen: Nichts ist unwiderruflich, nichts ist in Stein gemeißelt oder in Zement gegossen. Es gibt immer Handlungsspielräume. Es gibt immer die Möglichkeit, Erwartungen nicht zu erfüllen.

Damaris Sander: Das kann sogar sehr gesund sein, weil es den eigenen Unwillen ernst nimmt, einem Erwartungsdruck nachzukommen.

Peter Wehr: Es setzt aber eine offene Kommunikation und bestenfalls ein Gegenangebot voraus. Wenn den Enkeln bei Oma und Opa an Weihnachten regelmäßig langweilig ist, dann sollten die Eltern überlegen, wie die Zeit spannender gestaltet sein könnte. Welche Unternehmungen, welche Abwechslungen, welche Spiele könnte es geben? Zu den Handlungsalternativen gehört es auch, kleine Auszeiten und Rückzugsmöglichkeiten als Inseln im Festtagsstrom einzubauen. Ganz wichtig: Aus dem Entweder-Oder aussteigen, die gemeinsame Zeit vorher planen, rechtzeitig vorher besprechen, was an Weihnachten in früheren Jahren nicht gut gelaufen ist und was man diesmal anders, besser machen könnte. Vor allem aber: Mit dem Erwartungsbruch nicht erst spontan an Heiligabend beginnen.

Damaris Sander: Man kann sich auch aktiv vornehmen, schwelende Konflikte für diesen einen Abend auszuklammern. „An Weihnachten bekommen wir das Problem sicher nicht gelöst, also lassen wir es in Frieden ruhen.“ Das ist eine aktive Verzichtsübung, mit der man sich und den anderen etwas Gutes tut.

Peter Wehr: Auch politische Diskussionen oder andere Themen, von denen alle Beteiligten wissen, dass sie heikel sind, kann man sich guten Gewissens sparen. „Na, für deine SPD sieht es ja gar nicht mal so gut aus…“ – „Ihr mit eurem Klima-Getue…“ Sticheleien dieser Art sollte man sich tunlichst verkneifen, auch wenn sie dem inneren Schweinehund gefallen mögen.

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Hat die verbreitete Wahrnehmung von Weihnachten als Stress-Faktor nicht auch mit der höheren Zahl von Patchwork-Familien zu tun?

Peter Wehr: Das ist sicherlich auch ein Faktor. Aber hier gilt umso mehr: Es gibt nichts, was es nicht gibt – oder nicht geben darf. Ein großer Fehler getrennter Paare ist es, ein vermeintliches Bedürfnis der Kinder – Mama und Papa sollen mit uns gemeinsam feiern – über alles andere zu stellen. Getrennte Elternpaare sollten sich erst einmal selbst fragen, ob sie das überhaupt können oder möchten. Oftmals gibt es zwischen ihnen noch zu viele ungelöste Probleme. Und die Eltern können auch nicht alles ungeschehen machen, was die Trennung womöglich an Härten für die Kinder mit sich gebracht hat oder woran die Kinder nach wie vor leiden. Eine Inszenierung von Gemeinsamkeit an Heiligabend, die es weder am Tag davor noch am Tag danach gibt, hilft den Kindern überhaupt nicht.

Damaris Sander: Wenn die Beziehung zum Ex, zur Ex sehr schwierig ist, hilft es, ehrlich zu sich zu sein und zu den eigenen Grenzen zu stehen: „Ich halte es mit ihr, mit ihm einfach nicht aus, noch nicht einmal für drei Stunden an Heiligabend.“ Das ist in Ordnung! Die Verletzungen, die man davongetragen hat, gehen ja nicht mit einem Mal weg, nur weil Weihnachten ist. Und auch Kindern kann man schon vermitteln, dass ihre Beziehung zum Papa oder zur Mama eine andere ist als die der Eltern untereinander. Und gerade an Weihnachten ist wichtig, was eigentlich wieder für das ganze Jahr gilt: Die Kinder nicht in Loyalitätskonflikte stürzen. Aus der Frage, wer, wann, wo und wie mit den Kindern feiert, keinen Konkurrenzkampf oder einen Überbietungswettbewerb um Zuneigung machen.

Peter Wehr: Und auch die Ent-Täuschung wagen! Getrennte Paare dürfen die Kinder mit der Lebensrealität konfrontieren und sollten nicht an Heiligabend heile Welt spielen.

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