Monster, Nackte, Tombola10 Geheimnisse, die Sie im Kölner Dom noch entdecken können

Schock-Werner über den Dächern des Doms.
Copyright: Uwe Weiser
700 Jahre nach der Chorweihe könnte man meinen, über den Kölner Dom wäre alles gesagt. Aber die gotische Kathedrale mit rund 8000 Quadratmetern Grundfläche ist wie ein historisch gewachsenes Wimmelbild: Je länger man schaut, desto mehr entdeckt man. Und so gibt es sogar für Menschen, die den faszinierenden Bau schon häufiger besucht haben, immer wieder etwas Neues zu sehen. Ein kleines Dom-Geheimnis, von dem sie so – vielleicht – noch nicht gehört haben. Auf der Suche nach diesen Geheimnissen sind wir mit einer durch den Kölner Dom gestreift, die sich auskennt: die frühere Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner.
Die Monster in der Domschatzkammer

Der Kopffüßler kämpft mit Drachenvögeln.
Copyright: Uwe Weiser
Um sie zu entdecken, muss man sehr genau hinschauen: kleine Mischwesen aus Mensch und Tier, Drachenvögel und sogar ein bärtiger Kopffüßler mit riesigen Augen und missmutigem Mäulchen. Sie verstecken sich tief unter dem Dom im Gewölbekeller. Sie raufen und kämpfen direkt neben einem bildhübschen Engel mit einer Glocke in jeder Hand. Sie toben zwischen goldenen Schätzen und feinen Gewändern. Und niemand weiß so recht, wie diese Dämonen in den Dom gekommen sind, sagt Barbara Schock-Werner. „Wir wissen nur, dass sie schon immer hier waren, vielleicht als Teil des Vorgängerbaus oder der früheren bischöflichen Residenz.“

Schock-Werner war von 1999 bis 2012 Dombaumeisterin, als erste Frau in diesem Amt.
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Genau genommen handelt es sich bei den sechs ungewöhnlichen Steinmetzarbeiten aus der Zeit um 1200, die in der unteren Ebene der Domschatzkammer ausgestellt sind, um romanische Kapitelle. Abgeleitet vom lateinischen capitellum für Köpfchen bezeichnet das Wort den oberen Abschluss einer Säule oder eines Pfeilers, der schon in der Antike zur besseren Verteilung der Gebäudelast auf die Stützen angebracht wurde.
Die Monster-Kapitelle im Dom werden einem Bildhauer zugeschrieben, der einen ebenso sagenumwobenen Namen trägt, dem „Samsonmeister“. Er galt als der berühmteste Steinmetz seiner Epoche. Was er im Sinn hatte, als er die Monster entweder selbst modellierte oder von den Leuten in seiner Werkstatt modellieren ließ, wird ein Geheimnis bleiben. Schock-Werner vermutet, es geht um einen allzu weltlichen Wunsch, der immer noch aktuell ist: die Überwindung des Bösen.
Die Madonna gegen Liebeskummer

Bei den Spenden zählt das Anliegen.
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Manche Menschen, die ein gebrochenes Herz haben, gehen mit Freunden auf einen Drink in eine Bar. Andere melden sich bei Tinder an oder in einem Sportverein – in der Hoffnung, dort eine Romanze zu finden. Und wieder andere marschieren in den Kölner Dom. Was angesichts des frommen Rufes des Gotteshauses erstaunlich klingt, wird greifbarer, sobald man im linken, nördlichen Querschiff vor einer barocken Muttergottes mit Kind steht. Von der Figur ist nur wenig zu sehen, sie ertrinkt quasi in den vielen edelsteinbesetzten Kreuzen, Broschen und Medaillons, die auf ihrem seidenen Kleid heften. Links und rechts neben der Holzfigur: Zwei Vitrinen mit aufgereihten Eheringen, Ketten, Uhren, Armbändern. „Die Schmuckmadonna hat den Ruf, sich den Nöten der Menschen anzunehmen“, erklärt Schock-Werner.„Besonders hilfreich aber soll sie in Liebesdingen sein.“
Und damit die Madonna des Liebeskummers, wie sie genannt wird, wirklich hilft, bringt man ihr Schmuck und Blumen vorbei. Nicht alles ist kostbar, unter den Spenden befinde sich auch schon mal ein Plastikspängchen, weiß die frühere Dombaumeisterin. Aber auch diese Gaben werden ausgestellt – es geht ja um das tiefliegende Anliegen. Ein Brauch, sagt Schock-Werner, der aus einer Zeit stamme, in der so etwas wie „Dr. Sommer“ lange nicht erfunden war. Damals wussten die Menschen häufig nicht, an wen sie sich wenden sollten, wenn sie ihren Liebsten nicht heiraten durften, und suchten dann den himmlischen Trost. Und das tun sie offenbar bis heute.
Die Nackten an der Orgelempore

Teile des Reliefs waren verschollen.
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Das Relief ist leicht zu übersehen. Dafür ist seine Geschichte umso beachtlicher. Die Holzarbeit über das „Weltgericht“ aus dem Jahr 1948 zählte lange zu einem der ausgesprochen gut gehüteten Geheimnisse des Kölner Doms. So gut, dass die unteren Tafeln des Reliefs von Bildhauer Manfred Saul jahrzehntelang verschollen waren. Wenige Monate nach ihrer Installation an der für die Orgel neu errichteten Empore wurden diese Platten nämlich unter Protest gleich wieder abgehangen. Der Grund: Auf dem Relief sind nebst Christus und Maria, der Hölle mit den Verdammten sowie den Seligen, die ins Paradies eingehen, auch eine Schar von Auferstehenden zu sehen. Und zwar ganz so, wie Gott sie schuf, mit nackten Popos und Brüsten und sogar einem angedeuteten männlichen Geschlechtsteil. Wobei man schon sehr genau hinschauen muss, um diese Details zu erkennen. Wie jemand bei diesem Anblick auf „sündige Gedanken“ kommen soll, kann Schock-Werner ohnehin nicht verstehen. „Aber für die prüden 1950er Jahre war das zu viel!“
Es ist dem Zufall geschuldet, dass das Werk inzwischen wieder in Gänze hängt. Rund ein halbes Jahrhundert nach der Anti-FKK-Maßnahme kam eine ältere Frau in den Dom, die sich bei Schock-Werner als die Ehefrau des Bildhauers vorstellte. Der hätte bald seinen 70. Geburtstag, und es wäre doch schön, wenn sein Werk wieder vollständig zu sehen sei. „Selbst unser Domarchivar, der sich normalerweise an alles erinnert, wusste von nichts“, sagt Schock-Werner. Fündig wurde sie in der Holzwerkstatt. Dort waren die Tafeln eingemottet worden. Beschwert hat sich über die Nackten seither übrigens niemand.
Der Narr in der Schwalbennestorgel

"Loss jonn" heißt es nur an Karneval.
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Die Schwalbennestorgel, die die Bonner Orgelbaufirma Klais 1998 in den Dom gehangen hat, ist für sich genommen schon ein Mysterium. 30 Tonnen schwer, schwebt das Instrument an der nördlichen Langhauswand im Mittelschiff. Die langen Stangen, die die Orgel halten, sind in Stahlträgern verankert, die oberhalb des Gewölbes auf den Langhausmauern liegen. Die Orgel allerdings birgt noch eine andere Überraschung, von der Karnevalisten vermutlich gehört haben: Wenn der Organist am Karnevalssonntag das extra dafür geschaffene Orgelregister „Loss jonn“ (etwa: Mach voran!) zieht, öffnet sich unter der Orgel eine Klappe. Heraus kommt eine Figur mit Narrenkappe. Deren Gesichtszüge erinnern an den ehemaligen Domprobst Bernard Henrichs, der dem Kölner Karneval zugetan war. Dazu ertönt die Melodie des bekannten Karnevalsliedes „Mer losse d‘r Dom en Kölle“. Einmal, erinnert sich Schock-Werner, hat die Klappe leider geklemmt. „Das fanden die Gottesdienstgäste sehr frustrierend!“
Der Planet Saturn im Jesu-Fenster

Erinnert an das Logo des Elektronik-Handels.
Copyright: Uwe Weiser
Wer den Dom durch den Haupteingang betritt und sich gleich rechts Richtung Kerzen hält, läuft auf das 2010 rekonstruierte Leben-Jesu-Fenster zu. Wie der Name nahelegt, zeigt die Glasmalerei Episoden aus dem Leben von Jesus von Nazareth. Und ganz unten rechts ein Motiv, das nicht so recht in die Reihe passt, den Planeten Saturn. Was wie eine Würdigung der Astronomie wirkt, hat in Wirklichkeit ausschließlich mit Vorgängen auf dem Kölner Erdboden zu tun.
Der 2017 verstorbene Saturn-Gründer Friedrich Wilhelm Waffenschmidt und seine Ehefrau Anni hatten anlässlich ihres 55. Hochzeitstages damals ganze 400.000 DM für die Rekonstruktion des Fensters gestiftet. Sie sind beide namentlich am unteren Rand verewigt, erzählt Schock-Werner, „weil es ihm immer so wichtig war, die Rolle seiner Frau für den Aufbau der Elektronikwarenhäuser zu betonen.“ Einzig Waffenschmidts Wunsch, das Stadtwappen seines Geburtsortes Brühl aufzunehmen, regte Zweifel bei der damaligen Dombaumeisterin: „Brühl hat das vielleicht grausigste Stadtwappen ganz Deutschlands, mit fünf abgeschlagenen Köpfen.“ Und so kam stattdessen der Saturn in den Dom, als Anspielung auf das Firmenlogo des Elektronik-Fachmarktes.
Der kleine Engel mit den Seifenblasen

Schöne Details in den Glasmalereien.
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Überhaupt, die Fenster: Manche davon sind Jahrhunderte alt, zumindest soweit sie nicht im zweiten Weltkrieg zerstört worden sind. Darunter die opulenten Renaissance-Fenster auf der Nordseite des Langhauses. Das „Petrus- und Wurzel-Jesse-Fenster“ zeigt Episoden aus dem Leben von Petrus und die „Wurzel Jesse“: Aus der Brust des schlafenden Jesse wächst der Stammbaum Jesu heraus. Besonders schön aber, sagt Schock-Werner, sei ein ganz kleines Detail am unteren Rand. Dort sitzt inmitten von musizierenden Engeln eine kleiner Nachwuchsengel, der Seifenblasen macht. Dieser kleine Engel ist nicht das einzige ungewöhnliche Detail in den Glasmalereien. In der Stephanuskapelle rechts im Chorumgang befindet sich das „Jüngere Bibelfenster“, um 1280 entstanden. Es zeigt Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament, wie Moses vor dem brennenden Dornenbusch, aus dem Gott zu ihm spricht. Es war sicher nicht im Sinne der Schöpfer, aber aus heutiger Sicht sieht es so aus, als trüge Moses gelbe Gummistiefel.
Eine kuriose Zeitreise der Technik-Geschichte

Als jede Lampe einzeln angeschaltet wurde.
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Wer in dem Lastenaufzug an der Nordseite des Doms im Rahmen einer Führung in die Höhe knattert, hat nicht nur eine atemberaubende Aussicht auf Köln. Er begibt sich auch auf eine besondere Zeitreise. Denn im Glockenstuhl des Südturms steht allerlei Gerät, das nicht nur die Geschichte der Menschen erspüren lässt, die im Dom gepredigt haben, sondern auch derer, die am Dom gebaut haben. Mit diesem „Technik-Museum" habe sie sich einen Traum verwirklicht, sagt die frühere Dombaumeisterin. Kaum vorzustellen, wie einst Steinmetze, Schreiner oder Dachdecker in diesen hölzernen Sitzen nur an einem Seil befestig die Außenwände der Kathedrale hinauf- und hinuntergezogen wurden.
Direkt daneben zwei blecherne Tombolas, jeweils von der Dimension eines Betonmischers. Sie erinnern an die Zeiten, in denen es zeitweise im Dom Glücksspiel gab: Die „Prämienkollekte“, besser bekannt als Dombaulotterie, sollte anno 1865 auf Initiative des bis heute bestehenden Zentral-Dombau-Vereins die maroden Kassen für den Weiterbau der Türme füllen. Das Herzstück dieses kuriosen Sammelsuriums ist allerdings eine Schaltfläche, anhand derer nach der Elektrifizierung des Doms im Jahr 1909 jede Lampe einzeln ein- und ausgeschaltet werden konnte. Zuvor wurde der Dom lange Zeit mit Gasleuchten erhellt. Wer die Spuren dieser Zeit entdecken möchte: Bis heute sind an den Säulen im Hauptschiff die inzwischen verputzten Leitungen zu sehen, durch die früher die Rohre für die Gaszufuhr zu den Lampen verliefen.
Die Polsterheizung im Beichtstuhl

Der alte Beichtstuhl im Dom.
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Im Kölner Dom wird nicht geheizt. Kölnerinnen und Kölner wissen das, sagt Schock-Werner, „deswegen werden im Winter die Lammfellsohlen in die Schuhe gelegt“. Es gibt allerdings zwei Ausnahmen – die vermutlich trotz Energiekrise bestehen bleiben werden: Der Organist sitzt vor einem Wärmeparavent, damit er „während der Predigt keine kalten Finger bekommt“, erklärt die Dombaumeisterin a.D. und in den hölzernen Beichtstühlen gibt es inzwischen eine Polsterheizung. Apropos heizen: Wer wissen will, wie schon die alten Römer Häuser mit einer Frühform der Zentralheizung aufgewärmt haben, sollte eine Führung durch die Ausgrabungen unter dem Dom besuchen. Dort sind unter anderem die Überreste einer historischen Hypokausten-Heizung zu sehen, die folgendermaßen funktioniert hat: Von einer Feuerstelle unter dem Haus wurde heiße Luft unter dem Fußboden entlang geleitet und dann in Wandkanälen nach oben geführt. Trotz Gas-Krise: Besser nicht nachbauen!
Die Wächterräume von Bruder Angelicus

Hier lebte Bruder Angelicus.
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Lange Zeit wandelte nachts ein Franziskanerbruder namens Angelicus Maier durch den Dom und wachte über dessen Schätze. Was klingt, wie eine Szene aus der „Name der Rose“, ist eine wahre Geschichte, die noch gar nicht so lange her ist. Von 1925 bis 1975 lebte der besagte Domküster abgeschieden in den mittelalterlichen „Wächterräumen“, deren vergitterte Fensteröffnungen in der Nordwand der Kreuzkapelle immer noch zu sehen sind. Gerade einmal neun Quadratmeter sind die beiden Kammern dahinter jeweils groß.
Wie entscheidend Maiers Dienste waren, zeigte sich nur drei Wochen nach seinem Tod am 13. Oktober 1975. In der Nacht zum 2. November drangen Einbrecher in die Domschatzkammer ein, damals noch im Dreikönigensaal schräg unter den Wächterräumen gelegen. Den Tätern war es gelungen, den Alarm zu umgehen (mehr über diesen und andere Kriminalfälle im Dom lesen Sie hier).
Ganze 1000 Tonnen Biomasse auf der Fassade

Moose und Flechten färben die Fassade grün.
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Der heiße Sommer sei nicht zuträglich für die Pflanzenwelt auf dem Kölner Dom gewesen, sagt Schock-Werner, vieles sei vertrocknet. Aber an einigen Stellen kann man sie noch entdecken, die Moose und Flechten, die die Fassade normalerweise dicht besiedeln. So dicht, dass sie den Dom an den schattigen Stellen regelrecht grün färben. Die „Ökologie des Kölner Doms“beschäftigt auch Biologen. In ihrer gleichnamigen Broschüre schätzten Bruno P. Kremer und Iris Günthner die „lebende Patina des Doms“, die auf Streben, Bögen, Kreuzblumen und anderen Bauteilen angesiedelt ist, auf rund 1000 Tonnen Biomasse, vor allem aus Klein- und Kleinstorganismen.
Die „mikrobielle Besiedlung" sei, neben dem Schmutz aus der Luft und Veränderungen im Gestein, auch an der dunklen Färbung der Domfassade mitbeteiligt, schreiben die Biologen. Bei der Vollendung der Türme im Jahr 1880 war diese Fassade fast weiß. In ihrer Zeit als Dombaumeisterin hätten sich deswegen immer wieder Leute bei ihr darüber beschwert, dass der Dom nicht von außen gereinigt wird, erinnert sich Schock-Werner. Aber davon hält sie wenig. Nicht nur, weil der Dom für ein solches Vorhaben schlicht zu groß sei. Sondern auch aus ästhetischen Gründen, die Kathedrale ist nicht aus einheitlichem Stein gebaut. „Der Schmutz hält das Ganze also auch optisch zusammen“, sagt Schock-Werner.
Barbara Schock-Werner, Joachim Frank: „Dom-Geschichten“, 176 Seiten, DuMont, 18 Euro
Petra Sophia Zimmermann, Klaus Hardering: „111 Orte im und am Kölner Dom, die man gesehen haben muss“, 240 Seiten, Emons, 16,95 Euro