Religion & GesellschaftAuf den Spuren der Sieben Todsünden

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Trägheit/Acedia

Trägheit/Acedia

Um dem Sinn dessen auf die Spur zu kommen, was „Todsünde“ meint, ist die Unterscheidung zwischen Sünde und Schuld zentral. Denn ist der Mensch erst einmal bereit, eine göttliche Ordnung für sein Leben gelten zu lassen, kommt er in einem zweiten Schritt nicht um eine innere Abstufung herum, eine Hierarchie der Normen und der Normverstöße: Was ist „in den Augen Gottes“ ein wirklich schlimmes Vergehen? Schon zwischenmenschlich stößt die rein quantifizierende Antwort schnell an Grenzen. Dies gilt erst recht für das Verhältnis zu Gott.

Auf die Frage nach den gravierendsten Übertretungen der göttlichen Ordnung, so Stephan Goertz, geben Judentum und Christentum, weitgehend übereinstimmend, drei Antworten:

  • Götzendienst oder Gotteslästerung als Bruch der Beziehung zwischen Mensch und Gott

  • Mord als ultimativer Angriff auf das Leben, das höchste Gut des Mitmenschen

  • Unzucht oder Ehebruch als Verletzung der Integrität einer Paarbeziehung als Urzelle der Vergemeinschaftung, in archaischen Kulturen auch Verletzung elementarer (Besitz-)Ansprüche des Mannes auf die Frau.

Götzendienst oder Gotteslästerung als Bruch der Beziehung zwischen Mensch und Gott

Mord als ultimativer Angriff auf das Leben, das höchste Gut des Mitmenschen

Wer sich mit diesen Vergehen an der göttlichen Ordnung versündigt, der „tötet“ ein bis dahin lebendiges Beziehungsgefüge, er rüttelt – bildlich gesprochen – nicht bloß ein bisschen am ethischen Gebälk, sondern wirft das Gerüst um. Das kann für ihn nicht folgenlos bleiben: Ausschluss des „Todsünders“ aus der Gemeinschaft ist die notwendige Sanktion, Wiedergutmachung zwingendes Erfordernis für Vergebung und für die Wiedereingliederung ins Leben der Gemeinschaft.

Das Christentum hat hierfür das Institut der Beichte erfunden. Ursprünglich konnte sie nur ein einziges Mal abgelegt werden. Das geschah oft erst auf dem Sterbebett, um der Gefahr neuerlichen Fehlverhaltens zu entgehen und den ewigen Verlust des Seelenheils abzuwenden. Viele Menschen lebten also bis kurz vor ihrem Tod im Stand schwerster Sünde. Erst die Einführung der Wiederholungsbeichte löste dieses existenzielle Problem, schuf aber dafür ein anderes: Wer häufiger beichten geht, braucht mehr zum Beichten als Götzendienst, Mord und Ehebruch. So entstanden nach und nach immer ausgefeiltere Sünden- oder Lasterkataloge. Die mittelalterlichen Beichtspiegel waren nichts anderes als moralische Checklisten. Positiv gesprochen, trugen sie dem Bedürfnis nach Systematisierung Rechnung. Negativ gesehen, kam in ihnen eine immer versessenere Verbotsmoral der Kirche zum Ausdruck. Infolge leibfeindlich-asketischer Traditionen und kultischer Reinheitsvorstellungen verdammte sie insbesondere alles das, was mit (sexueller) Lust zu tun hat: Sünde x begangen? Ja? Nein? Mit wem? Wie oft? Abhaken! Nächste Sünde.

In dieses Denken scheint die im 4. Jahrhundert entstandene Liste von acht – später sieben – Todsünden perfekt zu passen, auf die nach kirchlicher Lehre die Hölle stand, wenn sie nicht bereut und gebeichtet wurden. Doch bei genauem Hinsehen entziehen sich diese Todsünden oder Hauptlaster der kasuistischen Mechanik von Lasterkatalogen: Denn an welchem Punkt Sparsamkeit in Geiz übergeht oder gesundes Besitzstreben in Habgier; wann jemand als eitel gilt; was aufwallende Emotion zum zerstörerischen Zorn macht – das alles ist weder von vornherein ausgemacht noch mathematisch messbar, sondern eine Frage der Haltung.

Das wiederum könnte ein Anknüpfungspunkt sein für den emanzipierten, modernen Menschen und seine Frage nach dem „richtigen Leben“. Einen Antwortversuch in diese Richtung hat Mahatma Gandhi (1869 bis 1948) mit seinen sieben Todsünden der modernen Welt unternommen. Der indische Asket und Pazifist nennt: Genuss ohne Gewissen, Wissen ohne Charakter, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Religion ohne Opferbereitschaft, Politik ohne Prinzipien, Reichtum ohne Arbeit, Geschäft ohne Moral.

Es ist gewiss kein Zufall, dass Gandhis Begriffspaare an den Papst und seine Warnung vor einer Tod bringenden Wirtschaft erinnern. Hätte vielleicht auch Franziskus von Todsünden der Gegenwart reden sollen? Lieber nicht. Die Kirche sollte sich mit ihrem Vokabular nicht neuerlich dem Verdacht der Gängelung aussetzen. Zwar finden sich die klassischen „Todsünden“ auch noch im „Katechismus der Katholischen Kirche“ von 1993. Doch lebensweltlich taugen sie nur mehr zum Zitat, zum schrillen Marketing-Gag, der Vanille-Erdbeereis als „Wollust“ für Genießer anpreist oder eine Tiramisu-Variation als „Habgier“, weil diese Kreation „Lust auf immer mehr“ mache. „Wir spielen nur ein bisschen keck mit der täglichen kleinen Sünde“, sagen die Marketing-Leute treuherzig. Stimmt, und vielleicht ist es ja sogar das Beste, was aus den Sünde-Verdammnis-Höllenfeuer-Obsessionen der kirchlichen Obrigkeit am Ende werden konnte: die Todsünden als „frechstes Eis aller Zeiten“, schnell weggeschleckt und leicht verdaut.

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