Friedrich DürrenmattBesuch im CERN im Februar 1974

Lesezeit 4 Minuten
Friedrich Dürrenmatt. (Bild: dpa)

Friedrich Dürrenmatt. (Bild: dpa)

An einem Samstag im Februar 1974 wird mir von einem Physiker, einem Bekannten Albert Vigoleis Thelens, das Europäische Laboratorium für Kernforschung gezeigt, CERN. Am Stadtrand von Genf. Es ist kalt. Eine unermessliche Industrieanlage, kilometerweit scheint es, Gebäude an Gebäude. Wir besteigen zuerst einen Aussichtsturm mit Sicht über das Ganze. Thelen, der mitgekommen ist und den Ausblick schon kennt, amüsiert sich, ihm kommt der Aufwand, der da getrieben wird, komisch vor, ich bin verwirrt, der bescheidene Arbeitstisch Otto Hahns steht mir vor Augen, auf welchem die erste Atomspaltung glückte, irgendwo sah ich ihn abgebildet, er hätte auch in Doktor Fausts Kabinett gepasst: einige Batterien, Glühbirnen, Spulen, ein Paraffinschutzring; und nun diese Ungeheuerlichkeit, die Experimentalphysik braucht nicht zu sparen, hier bastelt sie mit Zyklopenarmen und Millionenkrediten.

Die Erforschung immer kleinerer Teilchen erfordert immer riesenhaftere Einrichtungen, immer zyklopischere Installationen, schon ist ein Superprotonensynchrotron für eine Milliarde Schweizer Franken im Bau: zehn Meter unter der Erde, eine Maulwurfmaschine angesetzt, die einen vier Meter breiten, kreisrunden, sieben Kilometer langen Schacht durch das Gelände frisst, meist in französischem Gebiet, die Schweiz ist für CERN längst zu klein geworden. Man hofft, die Quarks zu entdecken, wobei unter Quark nicht ein Milchprodukt, sondern das kleinstmögliche Materieteil zu verstehen ist, von dem man hofft, es sei vom Superprotonensynchrotron aufzuspüren, falls es die Quarks überhaupt gibt, denn dass man mit der gewaltigen Anlage etwas sucht, was es gar nicht gibt - vielleicht gar nicht geben kann -, ist natürlich auch möglich. Auch wird zugegeben oder beinahe fast zugegeben, man weiß nicht recht, ob man es bestreiten soll oder zugeben darf, dass, wenn immer mächtigere Superprotonensynchrotrone, immer gewaltigere Speicherringe, immer monströsere Blasenkammern gebaut wurden, dass man dann sich fragen müsse oder solle, ob der Mensch nicht Gefahr laufe, schließlich Ur-Teilchen zu erfinden statt zu finden. Doch wie dem auch sei, man möchte endlich dem Geheimnis des Neutrinos auf die Spur kommen.

Einerseits versichert uns der Physiker, er verstehe auch nicht viel davon, er sei kein Neutrino-Spezialist, und man dürfe die Teilchen nicht allzu materialistisch auffassen; andererseits wird er von Thelen und mir, neugierig wie wir als Schriftsteller nun einmal sind und bereit, als Erfinder von Geschichten auch in den Neutrinos etwas Erfundenes zu sehen, nun doch oder gerade deswegen in die Frage verwickelt, was denn ein Neutrino eigentlich sei, was man unter einem masselosen Teilchen verstehe, das um sich selbst rotiere, ob nicht vielmehr der Raum um dieses Teilchen, um diesen Punkt herumwirble und wir und die Welt vielleicht mit, wie auf einem wahnwitzigen Karussell um eigentlich nichts, eine Idee, die Thelen besonders ausschmückt, ob es sich etwa um ein bloßes Gedankending handle, ob sich am Ende CERN nicht vielleicht mehr als eine metaphysische, ja theologische denn als eine physikalische Versuchsanstalt herausstellen könnte, Fragen, die nicht fair waren; als ob man einen Theologen frage, der eben Gott entmythologisiert hat, was denn Gott in Wirklichkeit sei, ein Prinzip, eine Weltformel oder was denn eigentlich nun, ohne zu begreifen, dass diese Frage untheologisch ist, ja dass gerade moderne Theologie nur noch unter der Bedingung möglich ist, dass solche Kinderfragen nicht mehr gestellt werden.

So lächelt der Physiker denn auch nachsichtig: Niemand sei sich klar darüber und könne sich klar darüber sein, was denn eigentlich, außerhalb der physikalischen Fragestellung, „in Wirklichkeit“ diese Teilchen seien, die man da erforsche, erforschen wolle oder zu erforschen hoffe - oder zu erfinden, weil es für den Physiker gar kein „außerhalb“ geben könne, dieses falle vielmehr in das Gebiet der philosophischen Spekulation und sei für die Physik irrelevant. Gleichgültig. Hauptsache, dass man forsche, überhaupt neugierig bleibe.

Der Textauszug stammt aus:

Friedrich Dürrenmatt, Der Mitmacher. Ein Komplex, Diogenes Verlag, 352 Seiten, 9,90 Euro.

KStA abonnieren