Hagen - Lange StraßeEin Sprung von der Straßenbahn

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Ein Jahr nach Kriegsende kam ich in der Lange Straße 85 in Hagen zur Welt, so wie auch schon meine Mutter hier zur Welt kam! Im Stadtteil Wehringhausen, und die Leute hier sind erst mal Wehringhauser und dann Hagener! Die Lange Straße teilt diesen Stadtteil wie die Mittelgräte einen Fisch, eine betriebsame Achse mit vielen kleinen Läden, damals wie heute. Sie reicht von der Rehstraße bis zur Wilhelmstraße, heute Bergischer Ring. Es gibt schöne Häuser, um die Jahrhundertwende gebaut, ebenso wie die schlichten Häuschen der Werksiedlung Firma Eicken an der Rehstraße.

Unter der Lange Straße im Tal der Ennepe läuft fast parallel die Wehringhauser Straße. An ihr lagen damals große Fabriken und die dazu gehörigen Arbeiterwohnungen. Dahin ging ich ungern und in meiner Erinnerung ist es da mausgrau und staubig. Über uns war die Buscheystraße mit den schönen Häusern, die für Beamte und höhere Angestellte gebaut waren und kleine Vorgärten hatten. Darüber lagen noch verstreute Villen und dann die Kuppe des Goldbergs mit dem Turm, im Volksmund "Attadose" genannt. Von der Buscheystraße liefen all die steilen Straßen ins Tal, die im Sommer Rollschuhbahnen und im Winter wunderbar vereiste Schlittenbahnen waren.

"Mein" Stück Lange Straße lag zwischen Gutenberg und Ewaldstraße.Es gab damals massenhaft Kinder und der Spielplatz war die Straße. Auf der Straße wurde Ball gespielt, Hüpfekästchen und Himmel und Hölle. Es gab kaum Autos und die kleine Staßenbahn der Linie 8 sah und hörte man gut. Nach starkem Regen ließen wir in der Gosse kleine Rindenboote fahren und hinter Dargatz Büdchen begann ein abschüssiges, verwildertes Gelände, wo wir Verstecken spielten und auf kleinen Feuern stibitzte Kartoffeln brieten. Am Büdchen gab es die Bonbons einzeln und es gab auch einzelne Zigaretten für die Väter. Ich war sehr vernascht und liebte das Büdchen. Ich liebte auch das Lebensmittelgeschäft gegenüber: Feinkost Inge Wolff.Ich war noch so klein, dass ich mir nicht allein die Schuhe zubinden konnte, aber ich lief über die Straße und kaufte Schokolade bei der kinderlieben Inge Wolff. Viele Jahre vorher war hier schon ein Geschäft, was meine Mutter als Kind liebte. Da war es, erzählt sie, die Filiale eines Cafés, Killing, und die Verkäuferin die dicke Hilde, eine gutmütige Frau, die kleine Hilfen großzügig bezahlte. Ein paar Häuser weiter gab es noch ein Lebensmittelgeschäft, Wiedemann.Schon als meine Mutter ein Kind war, hatte der Kaufmann Wiedemann ein Auto, das einzige weit und breit.

Bei uns im Haus, Nr. 85 gab es das Schreibwarengeschäft Bethge mit einem für ein Kind überwältigendem Warenangebot, ja es gab sogar Bücher und kaum konnte ich lesen, kaufte ich bei dem strengen Frl. Bethge mein erstes Buch. Noch strenger als das Fräulein war ihr Dackel. Er beherrschte das Treppenhaus, lauerte uns auf, meinem Bruder und mir, und jagte uns mit grimmigem Kläffen in die Flucht.An der nächsten Ecke, Lange Straße / Franklinstraße gab es eine Drogerie, Klemann, (teuer! sagte Mutter), eine Metzgerei , Luther und die Werkhalle der Zwiebackfabrik Ottubo (Otto + Bonert) wo man auch preiswerten Zwiebackbruch kaufen konnte.Die Metzgerei Luther hatte ein großes, schönes Schwein aus rosa Porzellan im Schaufenster, innen war alles gefliest und die Würste hingen tadellos in Reih und Glied. Es gab ein Schuh-, ein Wäsche- und ein Haushaltswarengeschäft, einen Laden für feine Zigarren und es gab ein Milchgeschäft, Nippel. Dahin wurden mein Bruder und ich oft mit Blechkannen geschickt, um 1 oder 2 Liter Milch zu holen.Unser nächster Nachbar war die evangelische Pauluskiche. Mit dem dazugehörenden Gemeindehaus und dem Pfarrhaus nahm sie den ganzen Block ein.

Den nächsten Häuserblock dominierte die katholische Michaelskirche. So war für das Seelenheil der Wehringhauser bestens gesorgt. Übrigens war auch für den Durst gesorgt, es gab genug Kneipen! Da war das Vereinshaus der Michaelskirche, "der Vatikan". (Wo ich später heiratete.) Vater trank sein Bier mit Korn bei Spiekermann, Ecke Christian-Rohlfs-Straße und schon mal bei Stich, der Kneipe gegenüber Nr. 85, aber da nur am Kläppken.Das Kläppken war eine Art Durchreiche im Vorraum, wo man Bier in Krügen kaufen und auf die Schnelle ein Bierchen heben konnte.Gleich am Anfang der Langestraße, nach der Feuerwache, hatte mein Großvater einen Betrieb, auf dem Schild stand: Ferd. Schrage Maschinenbau. Unmittelbar hinter der lang gestreckten Werkstatt war und ist auch heute der Buscheyfriedhof mit seinen schönen, alten Gräbern und Grüften bekannter Hagener Familien. (Auch der Fam. Eicken!) Dann gab es einen Garten mit Obstbüschen und einem Hühnerstall. Wie viele Leute nach dem Krieg hielt Großvater ein paar Hühner und einen Hahn. Das eine Huhn war ein Sexmuffel und setzte sich platt auf den Po, wenn der Hahn zu aufdringlich wurde.

Entlang der Langestraße wuchsen im Garten eine Reihe alter Rotdornbäume, die herrlich blühten und die richtigen Kletteräste hatten. Man durfte sich beim Klettern aber nicht erwischen lassen, denn unter den Bäumen war ein hoher, eiserner Zaun mit Speerspitzen.Man durfte sich auch nicht erwischen lassen, wenn man flott von der Straßenbahn Linie 8 absprang. Meine Mutter war einmal als junges Mädchen von einem Polizisten erwischt worden, was Großvater mit einem Kasten Bier in Ordnung brachte, beide waren im gleichen Turnverein. Ich kam nicht so gimpflich davon, als ich meinem erschrockenen Vater direkt vor das Auto sprang.

Vieles fehlt in meiner Aufzählung: Schulen, der Markt, Geschäfte.Die zierliche Gestalt des Malers, der sein Atelier in einem Seitengäßchen der Langestraße hatte, Emil Schumacher. Später, als Malerin, war er lange mein Vorbild. Später in einer anderen, größeren Stadt. Da, wo der Garten war, ist heute ein Seniorenheim und da lebt das junge Mädchen, was einst so flott von der Linie 8 absprang, meine Mutter. Ich besuche sie oft und der schöne Turm der Pauluskirche ist so nah und die Langestraße so gar nicht mehr lang. Dem Kind kam die Straße einmal wirklich lang vor! Alles ist bebaut und es gibt kein einziges Lebenmittelgeschäft, keine Metzgerei, keine Haushaltswaren. Dafür jede Menge Schnickschnack, Kioske und Imbissbuden.Aber die Straße erholt sich gerade, will mir scheinen.Es wäre schön!

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