HeroinabhängigeDie Panik vor dem nächsten „Schuss“

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Viele Drogenabhängige müssen sich ihre Sucht auf kriminelle Weise finanzieren.

Viele Drogenabhängige müssen sich ihre Sucht auf kriminelle Weise finanzieren.

Frank (39)

Frank sieht müde aus. „Frag mich ruhig was, aber nicht wundern, wenn ich gleich wegpenne“, sagt er mit geschlossenen Augen. Es ist Freitagabend, 20 Uhr. Der 39-Jährige sitzt auf einem Stuhl in der Notschlafstelle für Obdachlose am Hauptbahnhof, vornübergebeugt, das Kinn berührt fast seine Brust. Frank (Name geändert) trägt einen dünnen weißen Bademantel, eine Unterhose und Badeschlappen.

Allein heute, erzählt er, habe er sich sechsmal Heroin gespritzt - den ersten „Schuss“ morgens um sieben gleich nach dem Aufstehen. „Ich suche mir immer einen sicheren Ort, wo keine Kinder und ältere Leute hinkommen.“ Eine verlassene Baustelle zum Beispiel, einen Keller, ein Parkhaus oder einen Park. Frank kocht das Heroinpulver auf, zieht die Spritze auf und setzt sie an. Doch die beruhigende Wirkung hält nicht lange an. Schnell stellt sich die Panik wieder ein; die Sorge, dass das Geld für den nächsten „Schuss“ nicht reicht. „Ein absolut beschissenes Leben ist das.“

Über seine Brüder kam Frank vor 18 Jahren das erste Mal an Heroin. Er habe nur probieren wollen, erinnert er sich. Doch in der Szene gebe es ein Sprichwort: „Wer einmal leckt, der weiß, wie's schmeckt.“ Frank wurde süchtig.

In der Innenstadt verkauft der 39-Jährige Obdachlosenzeitungen und bettelt. „An guten Tagen schnorre ich 120 Euro“, sagt er. Normal seien 60 bis 70 Euro, hängt vom Tag ab. „Sonntage und Montage sind Scheißtage, da sind kaum Leute in der Stadt.“ Reicht das Geld mal nicht, muss er „Turkey schieben“, also ohne Drogen auskommen. Turkey ist Englisch für Truthahn. „Wenn du Entzug machst, kriegst du Gänsehaut, das sieht aus wie bei einem Truthahn“, erklärt Frank.

Was ist mit Straftaten? „Jetzt nicht mehr, ich hab keinen Bock mehr auf Knast“, sagt Frank und schüttelt den gesenkten Kopf, die Augen sind noch immer geschlossen. Seine dünnen, blonden Haare fallen bis auf die Schulter, unter den Fingernägeln klebt Dreck. Die rechte Hand ist im 90-Grad-Winkel nach innen gekrümmt. „Fallhand“, sagt Frank. „Wenn ich breit bin, stütze ich immer meinen Kopf darauf, dann ist die Blutzufuhr unterbrochen, die Nerven sterben ab. Mit rechts kann ich schon keine Faust mehr machen.“

Zehn Jahre hat der Kölner, der in Chorweiler geboren wurde, in Gefängnissen verbracht, saß in Köln, Siegburg, Düsseldorf und Duisburg. Meistens wegen Raub oder Körperverletzung. Derzeit hat Frank noch eine zweijährige Bewährungsstrafe offen. „Ich habe einen Ladendetektiv in einen Einkaufswagen getreten, er hatte eine Platzwunde am Kopf,nix Schlimmes, zum Glück.“ Seine beiden Brüder und seine Frau starben an einer Überdosis Heroin, der Vater ist seit 1988 tot, den Kontakt zum Stiefsohn und zur eigenen Mutter meidet der ehemalige Gerüstbauer. „Ich will nicht, dass die sich einen Junkie reinziehen müssen. Ich will nicht, dass die mich so sehen.“ Zu einer Entgiftung oder Therapie konnte Frank sich noch nie durchringen.

Wie soll das weitergehen? „Weiß ich nicht. Aber ich pack das schon irgendwie. Ich muss jetzt schlafen.“

Andrea (37)

Seit ein paar Wochen ist für Andrea jeder Tag gleich. Gleich beschwerlich, gleich ermüdend. Aufstehen um sieben, ein Kaffee, zwei Zigaretten. Heroin spritzen im Drogenkonsumraum des Sozialdiensts Katholischer Männer (SKM) am Bahnhof. Schnorren am Neumarkt von 11 bis 15 Uhr, Heroin spritzen im Parkhaus, und um 20.30 Uhr in eine der Notschlafstellen der Stadt. „So als hätte ich ein tägliches Déjàvu“, sagt Andrea. Die 37-Jährige hat offene Eiterbeulen am Arm. Sie hinkt, setzt den linken Fuß beim Gehen nur auf den Zehenspitzen auf, weil ihre Hüfte schon im Mutterleib brach. „Meine Mutter hatte mit mir herumgetobt, die Hüfte haben meine Eltern nie richten lassen.“ Gott sei Dank, sagt Andrea, seien beide längst tot. Ihr Vater habe sie jahrelang missbraucht, die Mutter nur gesagt: „Bevor du in den Puff gehst, nimm lieber deine Tochter.“ Mit 14 wurde Andrea vom Vater schwanger. Zu einem Therapeuten traue sie sich bis heute nicht, erzählt sie. Stattdessen betäubt sich die zweifache Mutter mit Heroin und Alkohol. „Solange ich drauf bin, denke ich nicht an meine Probleme. Mit klarem Kopf würde ich das nicht durchstehen.“ Seit sechs Jahren spritzt sie täglich Heroin. Meistens im Park in einem Gebüsch, wo niemand sie sehen kann. „Am Anfang gefiel es mir. Jetzt mache ich es, um gesund zu werden.“ Um gesund zu werden? „Na ja, um die Sorgen zu vergessen halt.“ Ein Gramm kostet sie 50 Euro pro Tag. Woher sie den Stoff hat, will sie nicht verraten. „Ich habe da jemanden im Bekanntenkreis.“ Mit Schnorren verdient Andrea bis zu 70 Euro am Tag, berichtet sie. 300 Euro verdiene sie sich monatlich durch Hilfsarbeiten in einer Schneiderei dazu. „Da kennt jeder mein Problem, die akzeptieren mich. Ich arbeite aber auch sehr gut.“

Ihr Sohn lebt bei Andreas Ex-Mann, die Tochter in einer Pflegefamilie. Beide sieht die 39-Jährige jeden Sonntag - die wenigen Stunden sind der Höhepunkt jeder Woche. „Wären meine Kinder nicht, würde ich mir vielleicht etwas antun.“

Worauf ist Andrea stolz? „Dass ich nie kriminell geworden bin.“ Und dies vor allem auch nur wegen der Kinder, gibt sie zu. „Es wäre mir unendlich peinlich, wenn mein Sohn und meine Tochter mich im Gefängnis besuchen müssten.“

Andrea weiß: „Eine Therapie könnte mir helfen, ja.“ Aber noch sei sie nicht so weit. „Ich bin zwar schon tief gelandet“, sagt die Kölnerin. „Aber es geht noch tiefer.“

Simon (29)

Simon ist anders. So wie Simon stellt man sich keinen Junkie vor. „Ich sehe mich auch nicht als Junkie, ich habe ein Drogenproblem.“ Auf diesen Unterschied besteht der 29-Jährige. Er trägt Jeans und einen braunen Pulli, hat einen athletischen Körper, die braunen Haare trägt er modisch kurz verstrubbelt. Simon zieht an einer Zigarette. „Die Droge hat mich im Griff, ich war noch nie so tief unten wie jetzt. Beschissen ist noch harmlos ausgedrückt.“

Ein Leben auf der Straße. Simon schläft mal hier, mal da. Einmal im Monat gönnt er sich ein Hotelzimmer. „Um die Ruhe zu genießen“, erklärt er. Heute übernachtet Simon in der Notschlafstelle am Hauptbahnhof, im selben Zimmer wie Frank. Und doch trennen die beiden Männer Welten. „Sechsmal täglich will der spritzen?“, fragt Frank und grinst. „Im Leben nicht. Wo will er denn die Kohle dafür herhaben? Ich glaube hier keinem mehr.“ Von anderen Junkies hält Simon sich fern. „Ich kann dieses ganze Geschwätz nicht mehr hören.“ Er ist am liebsten allein. „In der Szene gibt es keine Freundschaften. Sobald es um Drogen geht, bescheißen sie dich alle. Da will jeder nur seinen eigenen Arsch retten.“

Auf sein Äußeres legt der gebürtige Duisburger großen Wert. Er möchte vermeiden, dass Fremde sein Drogenproblem bemerken. Simon rasiert sich alle drei Tage, trägt Markenklamotten - was beim Betteln ein Nachteil ist. „Die Leute nehmen mir nicht ab, dass ich Kohle dringend brauche.“ Tagsüber bettelt Simon in der Umgebung des Doms, immer mit dem Gesicht nach unten. „Ich schäme mich. Manchmal denke ich: »Warum gibst du dir diese Blöße? Geh lieber klauen!«“

Auch das hat er schon getan. Wegen Diebstählen und Dealerei saß Simon drei Jahre im Knast. Jetzt ist er auf Bewährung draußen, und er will kämpfen, sagt er: Erst eine Entgiftung, dann eine Therapie, dann betreutes Wohnen, dann einen Job als Koch. Das ist sein Plan.

Zu seinen Pflegeeltern will er keinen Kontakt mehr. „Die haben mich runtergedrückt, wo es ging, haben mich geschlagen. Von zwölf Jahren hatte ich acht Hausarrest.“ Mit 17 Jahren nahm Simon zum ersten Mal Heroin. „Ich war immer schon ein hibbeliger Typ, das Zeug beruhigte mich einfach.“ Er schluckte Ecstasy, schmiss Pilze, probierte Kokain - bis er seinen Arbeitsplatz in einem Hotel verlor und seine Freundin ihn aus der Wohnung warf.

Mindestens 40 Euro brauche er täglich zum Leben, erzählt Simon. 25 bis 30 für Heroin, den Rest für Lebensmittel, Duschzeug und Rasierschaum. „Einmal spritzen am Tag ist immer drin, manchmal dreimal.“ Und wenn nicht? „Dann kriege ich Schüttelfrost, Magenkrämpfe, Gelenkschmerzen, Rückenschmerzen. Ich fühle mich schlapp, so als würde ich meinen Körper hinter mir her- ziehen.“ Heroin ist längst kein Beruhigungsmittel mehr für ihn, die Droge bestimmt Simons Tagesablauf. „Ich mach mir einen Knaller und denke schon an den nächsten.“ Früher habe er das Spritzen genossen, das kurze Glücksgefühl danach sowieso. „Jetzt baller' ich nur noch, ich will, dass es schnell vorbeigeht.“ Er sticht sich nur in die Füße, nie in die Arme, die Narben könnten auffallen. In zwei Wochen beginnt seine Entgiftung.

Simons größter Wunsch ist ein geregeltes Leben und eine glückliche Familie: „Ich will meine Freundin zurückhaben, möchte ein Kind mit ihr haben, ein Auto, einen Hund und eine Wohnung. Ich bin fast 30, ich hab' schon zu viele Jahre verschenkt.“

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