HintergrundDas Mamma-mia-Syndrom

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Deutsche jammern nicht so schnell - und tun sich damit manchmal keinen Gefallen. Im Gegensatz zu den Südeuropäern beißen sie die Zähne zusammen und gehen erst zum Arzt, wenn es fast unerträglich wird. Dr. Thomas Nolte, Mediziner, Anästhesist, Schmerztherapeut sowie Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, warnt vor dieser Einstellung: „Wir vergeben damit die Chance, dass die Therapie frühzeitig angesetzt und Schmerz und Ursache wirkungsvoll bekämpft werden können. Je länger wir warten, desto größer ist die Gefahr, dass eine Heilung eventuell unmöglich oder deutlich erschwert wird.“ Sein unmissverständlicher Rat: „Schmerzen sind ein Warnsignal des Körpers. Wer das ignoriert, fügt sich Schaden zu.“

Lernen lässt sich daher bestens von den Südeuropäern und ihrem „Mamma-mia-Syndrom“. Die Bezeichnung spiegelt das andere Verhalten deutlich wider. Südeuropäer sind nicht bereit, unnötig lange zu leiden. Ihre eher extrovertierte Lebensweise lässt die Umwelt schnell erfahren, dass es um sie momentan nicht gut bestellt ist. Nolte: „Das ist ein Hilferuf an Familie und Freunde und gleichzeitig auch die Aufforderung, etwas zu unternehmen.“

Allerspätestens nach vier bis sechs Wochen sollten Menschen, die Schmerzen haben, dringend bei ihrem Haus- oder Facharzt auf eine weitere Abklärung drängen, so Nolte. Der Patient müsse dabei eingehend nach seinem beruflichen, familiären Hintergrund und seinem persönlichen Umfeld befragt werden. „Das wird bedauerlicherweise zu wenig gemacht, weil sowohl die Patienten als auch die Ärzte zu Geräte-gläubig sind. Viel zu schnell wird der Patient zum Röntgen geschickt, was zum Beispiel bei Rücken- oder Gelenkproblemen nur in wenigen Fällen weiter hilft.“ Denn, so Nolte weiter: „Auf Röntgenbildern kann ich das subtile Zusammenspiel von Muskeln, Bändern und Nerven gar nicht sehen. Gelenkblockaden und Muskelverspannung stellen sich auf Röntgenbildern nicht dar. Das erkenne ich nur bei der klassischen körperlichen Untersuchung.“

Das lange Aushalten der Schmerzen und eine zu einseitige Diagnose des behandelnden Arztes kann zu chronischen Schmerzen und zu langfristigen organischen Schäden führen - und damit auch zu enormen Kosten für die Therapie des Patienten. Ein deutliches Beispiel sind Rückenschmerzen, die pro Jahr in der Bundesrepublik 30 bis 40 Milliarden Euro an Kosten verursachen, Medikamente, Therapie und Ausgaben für Frühverrentung mit eingeschlossen.

Die Zahl der Menschen mit Rückenproblemen steigt stetig. Mittlerweile gehören schon Kinder und Jugendliche zum Kreis der Patienten. 90 Prozent aller Menschen mit Rückenproblemen sind nach rund vier Wochen wieder gesund. Die restlichen zehn Prozent, die vier Wochen und länger unter Rückenschmerzen leiden, laufen Gefahr, chronisch krank zu werden - wenn sie nicht eingehend therapiert werden. Das heißt, Familie, Beruf und das Umfeld müssen als mögliche Ursache des Schmerzes bei der Therapie bedacht werden.

„Probleme werden über den Körper ausgelebt“, sagt Nolte. „Wenn das nicht mit einfließt in die Behandlung, dann kann aus dem einfachen Rückenschmerz der überinterpretierte Bandscheibenvorfall werden und schließlich liegt der Patient auf dem Operationstisch. Die Fachwelt ist sich einig, dass 50 Prozent der Bandscheiben-Operationen überflüssig sind.“

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