HintergrundWas der Koran für Muslime ist

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BERLIN - Der Koran ist ein Buch, an dem sich die Geister scheiden. Die Muslime sehen in ihm das direkte Wort Gottes an die Gläubigen. Für Kritiker im Westen ist er ein Stein des Anstoßes: Generationen christlicher Theologen versuchten schon im Mittelalter, ihn als Scharlatanerie zu entlarven. Moderne Kritiker monieren, dass der Korantext Interpretationen zulasse, die Extremisten als Rechtfertigung für Gewalt missbrauchen. Unbestritten ist der Koran aber ein facettenreiches - und nicht einfach zu verstehendes - Glaubensdokument, das letztlich vielen Lesarten offen ist.

Der in Reimprosa verfasste Koran ist in 114 Suren unterteilt, die sich in Inhalt und Stil stark unterscheiden. Über weite Strecken liest sich der gut 1300 Jahre alte Koran wie ein bürgerliches Gesetzbuch, das Alltagsfragen etwa im Erb- oder Personenstandsrecht regelt. Zudem gibt der Koran zahlreiche Prophetengeschichten wider, die auf christlich-jüdische Traditionen verweisen - so etwa Geschichten der Propheten Issa (Jesus), Musa (Moses), Ibrahim (Abraham), Nuh (Noah) und Ajub (Hiob). An anderen Stellen hat der Koran poetischen Charakter, rätselhafte Beschwörungsformeln und Naturlyrik verweisen auf altarabische Dichtung.

Das direkte Wort Gottes

Der Koran hat für Muslime eine höhere Bedeutung als etwa die Bibel für die Christen. Ist die Bibel nach christlichem Verständnis „nur“ ein von Menschen geschriebenes Werk, stellt der Koran nach muslimischer Auffassung das direkte Wort Gottes dar, das Allah (Gott) über den Engel Dschribril (Gabriel) an Muhammad herabgesandt hat, der es dann weiterverbreitete, bis es in den Jahren nach Muhammads Tod (632) aufgeschrieben wurde. Als Wort Gottes nimmt der Koran heute in den Wohnungen gläubiger Muslime einen Ehrenplatz ein. Alte Exemplare werden nicht weggeworfen, Schändungen des Koran können erregte Reaktionen nach sich ziehen.

Die Einstufung des Koran als offenbarte göttliche Rede („Verbalinspiration“) hat weitreichende Auswirkungen auf die Frage seiner Übertragbarkeit in die Moderne. Die meisten Christen lesen die Bibel heute als historisches Dokument, das nicht wortwörtlich gültig sein muss. Im Islam ist das anders: Als Wort Gottes ist der Koran ewig gültig und nicht umformbar, eine historisch-kritische Lesart hat sich deshalb nie durchgesetzt. Auch eine Trennung von Staat und Religion ist im Koran nicht vorgesehen. Der Prophet Muhammad war schließlich nicht nur Religionsstifter, sondern Oberhaupt eines rasch expandierenden Islamstaats.

Für Muslime ist weithin unbestritten, dass der Koran bis heute wortwörtlich Gültigkeit hat. Allerdings ist der Text an vielen Stellen ungenau und schwer verständlich, so dass es viele verschiedene Lesarten und Interpretationen davon gibt, was denn nun eigentlich gemeint sei. Ob der Koran als potenziell gefährlich anzusehen ist, liegt also eher an seinen Interpreten als an jenem Buch, das derzeit in deutschen Fußgängerzonen verteilt wird. Die meisten Gläubigen unterstreichen den friedliebenden Charakter der Offenbarungsschrift.

Radikale Muslime wie etwa die Salafisten greifen auf besonders militante Interpretationen zurück - etwa, was den koranischen Begriff „Dschihad“ angeht. Er bedeutet „Anstrengung“, die jedem Gläubigen im Bemühen um ein islamkonformes Leben abverlangt wird. Islamisten bemühen hingegen eine militante Lesart und interpretieren „Dschihad“ als Aufforderung zum heiligen Krieg, mit der sich Gewalt rechtfertigen lässt. Ähnlich verhält es sich mit den im Koran geforderten strengen Strafen für Vergehen wie Diebstahl oder Ehebruch, welche Rechtsauffassungen des 8. Jahrhunderts widerspiegeln, von Islamisten aber in Form von Handabhacken oder Steinigungen in die Moderne transportiert werden. (afp)

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