Interpretatorische Freiheit

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Myung Whun Chung

Myung Whun Chung

In der kommenden Konzertsaison gibt es für das Orchestre Philharmonique de Radio France gleich zwei gute Gründe zu feiern: Zum einen seinen 75. Geburtstag als das erste von der damaligen Radioanstalt gegründete Rundfunkorchester, zum anderen das 35-jährige Bestehen in seiner heutigen Struktur. Pierre Boulez war es, der 1976 den entscheidenden Denkanstoß gab, die seinerzeitigen Orchesterformationen von Radio France neu zu ordnen.

Seitdem liegt die Spezifik des Ensembles in seiner außerordentlich vielseitigen Verwendbarkeit begründet – seine über 140 Musiker lassen sich je nach Repertoire zeitgleich in verschieden große Formationen teilen. So erklärt sich die enorme Bandbreite von über 50 Programmen, die jede Saison angeboten werden, sei es in sinfonischer oder kammermusikalischer Größe.

Etwa 20 Produktionen davon laufen allein im legendären Pariser Konzertsaal Salle Pleyel, der seit letztem Jahr in neuem Glanz erstrahlt, weitere finden im Salle Olivier Messiaen, in der Cité de la musique oder im Théâtre du Châtelet statt.

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Mehrere Zyklen widmen sich nur der zeitgenössischen Musik – eine Sparte, die auch dem musikalischen Direktor Myung-Whun Chung am Herzen liegt, mit dem das Orchester seit Mai 2000 zusammenarbeitet. Mit dem Komponisten Olivier Messiaen verbindet Chung eine ganz andere Beziehung: Eines seiner letzten Werke, das »Concert à quatre«, widmete Messiaen dem aus Südkorea stammenden Dirigenten und dem Orchester der Opéra Bastille, die es 1994 uraufführten.

Chung erlebte Messiaen so: »Er hat auf mich einen extrem starken Einfluss ausgeübt, sowohl musikalisch als auch von der Persönlichkeit her. Er war eine absolut ungewöhnliche Erscheinung, beinahe ein Heiliger. [...] wovon viele Interpreten nur träumen können: Den Komponisten live bei den Proben dabeizuhaben. Komponisten sind zwar nicht immer die besten Interpreten ihrer Werke. Aber wenn sie persönlich anwesend sind, dann weiß man als Interpret endlich einmal mit Sicherheit, ob das, was man macht, auch das ist, was sie wollen.«

Ein solcher Umgang mit zeitgenössischer Musik ist auf der einen Seite geprägt vom Bedürfnis, nicht nur die Noten und das Werk, sondern den tatsächlichen Willen des Komponisten zu erfassen, auf der anderen Seite von der Skepsis und der Erfahrung eigener Wahrnehmungsgrenzen genau in diesem Punkt.

Klangmagische Musiksprache

Sobald Messiaen anwesend war, hatte Chung das Gefühl, nur sehr wenig tun zu müssen. Und gleichzeitig war es für ihn ein großes Vergnügen, nicht alle Entscheidungen treffen zu müssen. Das heißt natürlich nicht, dass Chung es sich leicht gemacht hätte – es geht vielmehr um die Bereicherung, die seine musikalische Vorstellungswelt erfahren hat. Auch hier weist alles auf den Dualismus zwischen Werk und Interpret hin.

Doch während etwa ein Pierre Boulez anderen klanglichen Ergebnissen als denen, die vom Komponisten beabsichtigt wurden, skeptisch begegnet, begreift Chung diese als Chance: Die Werke vergleicht er mit »[...] Kinder[n], die eine gewisse Freiheit brauchen. Und je bedeutsamer ein Werk ist, um so mehr interpretatorische Freiheiten hat man. Komponisten sehen das ähnlich, und diese Freiheit ist für mich der einzige Grund, der das Dasein von uns Interpreten rechtfertigt. Andernfalls können auch Computer unsere Arbeit ausführen.«

Glücklicherweise sind (weiterhin) Musiker aus Fleisch und Blut vonnöten, um etwa die Erfahrungen von Schmerz, Getriebensein und erlösender ewiger Ruhe, die der klangmagischen musikalischen Sprache von Messiaens »Les offrandes oubliées «(»Die vergessenen Opfergaben«) seinen besonderen Reiz verleihen, (nach)empfinden zu können.

Messiaens erstem publizierten und öffentlich aufgeführtem Orchesterwerk steht Béla Bartóks Bratschenkonzert gegenüber, sein letztes und nur noch skizziertes Werk, an dem er bis kurz vor seinem Tod (am 26. September 1945) arbeitete. »Es ist fertig und auch nicht [...]«, so die Worte Bartóks. Gelten sie letztendlich nicht für jegliche Musik, die einem Interpreten und seiner interpretatorischen Freiheit überlassen ist?

Von Christoph Guddorf

04.05.2011 Mittwoch 20:00 Internationale Orchester 4 Antoine Tamestit Viola Orchestre Philharmonique de Radio France Myung-Whun Chung Dirigent

Olivier Messiaen Les offrandes oubliées Sinfonische Meditation für Orchester Béla Bartók Konzert für Viola und Orchester op. posth. Sz 120 Johannes Brahms Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 Pause gegen 20:40 | Ende gegen 21:50 KölnMusik € 10,- 21,- 32,- 44,- 52,- 62,- € 44,- Chorempore (Z)

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