Kinder mit RechenschwächeWürfel und Zollstock als Fremdkörper

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Keine Selbstverständlichkeit mehr: Wer mit Kinder und Enkeln Würfelspiele macht, beugt einer möglicher Rechenschwäche vor. (Archivbild: dpa)

Keine Selbstverständlichkeit mehr: Wer mit Kinder und Enkeln Würfelspiele macht, beugt einer möglicher Rechenschwäche vor. (Archivbild: dpa)

Köln – „Es gibt Kinder, mit denen kann ich kein »Mensch ärgere dich nicht« spielen“, beschreibt Irene Zahn, Erzieherin in der Kindertagesstätte Regenbogen in Langel, einen erschreckenden Zustand. Würfelspiele, Gummitwist, Hüpfekästchen - das, was Generationen von Kindern wie selbstverständlich gespielt haben, fällt heute manchem schwer.

Alles, was mit Zahlen und Zählen zu tun hat, scheint schwieriger zu werden. Und das hat Folgen: Kinder leiden unter Rechenschwächen, die sie ihr ganzes Leben begleiten können und Schulunterricht zur Quälerei werden lassen. „Vielen Kindern fehlt der Erfahrungshorizont, der für uns selbstverständlich war“, sagt Ulf Grebe, der als Therapeut im Kölner „Lerntherapeutischen Zentrum Rechenschwäche / Dyskalkulie“ arbeitet. Der 41-Jährige arbeitet in seinen Therapiestunden mit Dingen, die in seinem Elternhaus einfach dazu gehörten: einem Zollstock, Kisten mit Werkzeug und Schrauben oder einer Waage aus vordigitalen Zeiten. Weil Kindern heute der natürliche Umgang mit Zahlen und Mengen, mit Wiegen, Messen und Zählen fehle, können sie schlecht rechnen. „Und das Problem wird immer größer.“

Kein soziales Problem

Grebe referiert in der Langeler Kita über die Möglichkeiten, Rechenschwäche frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern. Grundschullehrerinnen und Kindergärtnerinnen aus dem Umkreis lassen sich beim Umgang mit einem gesellschaftlichen Phänomen helfen. Im Kölner Norden kennt man Kinder aus sozial benachteiligten, so genannten bildungsfernen Schichten genau wie die gut behüteten Kinder aus besser gestellten Familien, die ihre Sprösslinge durch fehlende Zuwendung vernachlässigen oder sie durch das permanente Hin- und Herkarren zu Musik- und Sportkursen überfordern. „Die Probleme in Mathe haben nichts mit dem sozialen Stand der Familie zu tun“, sagt Grundschullehrerin Cornelia Otto von der Merkenicher Außenstelle der Grundschule Spoerkelhof.

Die Beispiele für das, was in den Familien fehlt, sind banal: Kinder, die nicht mit ihren Eltern backen, haben weniger Gefühl für Mengen als diejenigen, die diese Küchenerfahrung machen. Spieleabende gehören genauso zum Lernen wie Basteleien oder das Lesen der Uhr. Lehrer und Erzieher berichten von Eltern, die ihren Kinder kein Taschengeld geben - weil es am Geld fehlt oder weil sie glauben, dass ihr Kind keins braucht, weil es ja alles bekommt, was es nötig hat. „So werden Zahlen zu einem zauberischen Ding, einem Symbol, das nichts konkretes bedeutet“, sagt Grebe. Es gehe darum, dass Kinder wissen, wofür eine Zahl steht.

Der Experte spricht von „mathematischen Basiseinsichten“, die ein Kind mitbringen müsste, wenn es in der Schule nicht abgehängt werden soll. Das bedeute nicht, dass ein Fünfjähriger schon rechnen können muss. Grebe stellt den Erzieherinnen einen kleinen Test vor, mit dem deutlich wird, was Vorschulkinder können müssten: Vorwärts und rückwärts zählen, Zahlen kleineren Mengen bunter Plättchen zuordnen oder gleiche Mengen als gleich erkennen - das kann längst nicht jedes Kind.

Untersuchungen belegen, dass Kinder im ersten Schuljahr beim Umgang mit Zahlen bis zu vier Jahren in ihrer Entwicklung auseinander liegen, sagt Martina Schneider, Leiterin des Lerntherapeutischen Zentrums. Einige seien auf dem Stand eines Vierjährigen, andere auf dem eines Achtjährigen. Dies gelte es zu erkennen, denn: „Fast jedem Kind kann geholfen werden.“

Das setzt Wissen bei Erzieherinnen und Leherinnen voraus, aber das ist bei vielen nicht vorhanden. Weil der Umgang mit Rechenschwäche nicht Teil der Ausbildung ist, müssen in Eigeninitiative organisierte Fortbildungen die Lücken schließen. Wenn es so wie in der Kita Regenbogen läuft, wird nicht nur fehlendes Wissen um Dyskalkulie vermittelt. Die Fortbildung verstärkt auch die nötige Vernetzung von Kindergarten, Schule und Offenen Ganztagsangebot. Was beim Thema Sprachförderung schon läuft, müsste sich auch bei Mathematik entwickeln. Noch sind Veranstaltungen wie in Langel, so Grebe, aber nur „löbliche Ausnahmen“.

Das Lerntherapeutische Zentrum ist telefonisch unter 0221 9123450 oder übers Internet zu erreichen.

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