KleptomanieWider Willen zur Diebin geworden

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Auch wenn Zwang und keine kriminelle Energie im Spiel ist, droht Kleptomanen nach einem Ladendiebstahl die Strafanzeige. (Bild: Andreas Helfer)

Auch wenn Zwang und keine kriminelle Energie im Spiel ist, droht Kleptomanen nach einem Ladendiebstahl die Strafanzeige. (Bild: Andreas Helfer)

Rhein-Sieg – Ganz unten angekommen, so sieht sie es heute, war Anita Behrends (Name geändert) als sie wegen Ladendiebstahls vor Gericht stand, eine Schulklasse auf den Besucherplätzen. „Da musste man sich öffnen, da ist man so klein.“ Einige Geldstrafen hatte die Angestellte zu diesem Zeitpunkt schonhinter sich, doch es nützte nichts: Immer wieder griff sie im Geschäft zu, mal war ein Pullover, mal ein Parfüm ihre Beute. Kleptomanie wird der Zwang zum Diebstahl genannt, doch Fachleute ziehen den Begriff Pathologisches Stehlen vor.

Behrends Weg führte aber nicht nur vor Gericht, sondern auch in eine Gruppe, die die Selbsthilfe-Kontaktstelle Rhein-Sieg-Kreis anbietet – und heute ist die Angestellte überzeugt, die Sache im Griff zu haben.

„Irgendwo ist immer ein seelischer Knacks“, hat sie in der Gruppe beobachtet. Aus der Beschäftigung mit dem Thema kenne sie eine ganze Reihe von Ursachen. Oft spiele das Gefühl eine Rolle, im Leben zu kurz gekommen zu sein, etwa bei Kriegskindern. Bei Jugendlichen, die in angesagten Klamottenläden auf Diebestour gehen, könne es um fehlende Anerkennung gehen oder „die Herausforderung, zu zeigen wie stark man ist“. Probleme in der Familie könnten der Auslöser sein oder, wie bei ihr, am Arbeitsplatz: „Ich bekam eine viele jüngere Kollegin als Vorgesetzte“, erinnert sich die Endfünfzigerin. Sie sei mit der ganzen Situation im Büro nicht zurechtgekommen und habe sich als Mobbingopfer gefühlt.

Niemals zuvor gestohlen

Niemals habe sie zuvor gestohlen, doch dann erlebte sie diesen imperativen Drang im Kosmetikgeschäft oder im Warenhaus: „Das geht direkt ins Gehirn, etwas in Dir sagt, Du machst das jetzt.“ Stresssituationen seien es vor allem gewesen, in denen sie zugegriffen habe. Vielleicht auch der Wunsch nach Selbstbestätigung, nach dem Motto, „ich kann doch etwas“. Und dafür habe sie sogar hohe Strafen in Kauf genommen.

Ähnlich schilderten andere Mitglieder der Selbsthilfegruppe den unheilvollen Drang, der früher oder später zur Bekanntschaft mit Ladendetektiv und Gericht führt – und dabei gehe es nicht einmal um persönliche Bereicherung. „Viele schmeißen das Gestohlene kurz danach wieder weg.“ Die Folgen nach dem Adrenalinstoß, die Selbstvorwürfe, das schlechte Gewissen seien schrecklich. Trotzdem folge schon bald die nächste Tat: „Ein Teufelskreislauf.“ Viele müssten erst sehr tief fallen, bis die Erkenntnis komme „so geht es nicht mehr weiter“.

Eine jüngere Teilnehmerin mit einer zweijährigen Tochter mahnte Behrends einmal: „Denk doch mal daran, Du hast noch so viel in Deinem Leben vor. Und dann steht so etwas irgendwann in Deinem polizeilichen Führungszeugnis.“ Denn egal, ob man Kleptomanie als Sucht oder als Krankheit sehe, der Diebstahl bleibe nun mal eine Straftat. Behrends schwört auf die Selbsthilfegruppe. Seit sie vor einem Jahr Mitglied geworden sei und sich mit anderen Betroffenen habe austauschen können, habe sie „keine langen Finger mehr bekommen“ – eine Befreiung.

Sie sieht aber auch die Grenzen der Gruppe, dann etwa, wenn die Arbeit eines Psychotherapeuten notwendig ist, um tiefer liegenden Ursachen wie sexuellem Missbrauch auf den Grund zu gehen. Wichtig sei die Gruppe in jedem Fall, als erster Schritt für ein Gespräch mit Betroffenen über ein absolutes Tabu: „Das ist ein ganz heißes Thema. Bis die Leute sich outen, das dauert wahnsinnig lange.“ Frauen falle das eher leichter, aber Männer trauten sich kaum, von ihrer Kleptomanie zu sprechen. „Zuzugeben, dass man Tempo 130 statt 30 gefahren ist, ist für die meisten kein Problem. Aber sagen Sie mal, «Ich habe geklaut».“

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