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Kirchenaustritte in Köln„Hallo, Mama. Du, sag mal, ich bin evangelisch, ne?“

Lesezeit 7 Minuten
Kirchenaustritt

„Ich brauch das nicht mehr. Auch kein kirchliches Begräbnis“, sagt Sabine Proestel.

  • Immer mehr Menschen wenden sich von den Konfessionen ab. So wie die Justizbedienstete Sabine Proestel, die im Amtsgericht selbst für die Kirchenaustritte zuständig ist.
  • Oder wie Marvin Berning, der schlichtweg keine Kirchensteuer mehr zahlen will.
  • Zu Besuch in Zimmer 47 des Amtsgerichts, wo das Ende amtlich gemacht wird.

Zehn Jahre lang hat Frau Proestel direkt am Rande eines Feldes gewohnt. Ihr Mann war viel auf Dienstreise, sie oft allein. Angst hatte sie trotzdem nie. Denn Frau Proestel hat drei Hunde. Die Tiere reichten ihr als Schutz. Sie wachen immer über sie, auch jetzt, sie hängen in Gold gerahmt an der Wand im Büro, blicken vom Desktop. In ihr linkes Bein sind sie sogar eintätowiert. Mit den Hunden, da fühlte sie sich am sichersten.

Es ist ein warmer Morgen, zehn nach acht, die Sonne scheint durch das große Fenster auf den Schreibtisch. Frau Proestel, zartrosa Jacke und eine dunkelblaue Bluse, schon seit einer Stunde da, hat gerade Leerlauf. Alle Akten sind sortiert. Sie schüttet sich einen Schluck Pepsi in die Kaffeetasse. Auch auf der ist ein Hund. Frau Proestel stellt die Limoflasche zurück unter den Schreibtisch. Unauffällig bleiben, hat sie gelernt, ist manchmal klug in der Arbeitswelt. Wenn sie rauchen will, sagt sie: „Ich geh’ mal frische Luft schnappen.“

Die Kirche erfuhr von ihrer Entscheidung als Erstes. Die Kirche erfährt es immer als Erstes, wenn eines ihrer Schützlinge sie verlassen will. Dann die Stadt, über die das Finanzamt. Frau Proestel hatte den Antrag zusammen mit ihrer Tochter eingereicht, nah ihrer Heimat in Bergheim. Frau Proestel war mal evangelisch. Aber: „Ich brauch das nicht mehr“, sagt Frau Proestel. „Auch kein kirchliches Begräbnis, hab ich dann am Ende eh nichts mehr von.“

Es klopft, eine Frau mit kurzen blonden Haaren tritt herein. Und Manuela Proestel, Justizbedienstete am Amtsgericht Köln, sagt: „Guten Morgen! Bitte setzen Sie sich. Aus welcher Kirche möchten Sie austreten?“ Es war vor drei Jahren, als Frau Proestel von der Zwangsversteigerungsstelle hierher wechselte. Seither ist sie mit zwei Kolleginnen zuständig für die Kirchenaustritte der Stadt. Sie sagt, dieser Wechsel habe auch sie zum Nachdenken angeregt, am Ende zum eigenen Austritt gebracht. Den Menschen, die zu ihr kommen, um die Kirche zu verlassen, erzählt sie das allerdings nicht. Fragt nur Daten und Namen und Orte ab.

2019 könnte ein Rekordjahr der Kirchenaustritte in Köln werden. Im Januar und März sind die Zahlen im Vergleich zum vergangenen Jahr um 56 Prozent gestiegen. Vielleicht, glauben sie beim Amtsgericht Köln, wird es das Jahr mit den meisten Austritten überhaupt. Ganz sicher, sagen sie, könne man diesen Trend in allen deutschen Großstädten beobachten.

350 000 Menschen verlassen in Deutschland im Jahr die Kirche. Ein Austritt dauert kaum länger als drei Minuten, sagt Frau Proestel. Manchmal aber wollten die Leute sprechen. Ist ja auch laut Recht ein Akt der „persönlichen Vorsprache“. Geht deswegen auch nicht online. Frau Proestel hört gern zu. Die Kirchen hörten lange Zeit nicht zu.

Die Austrittszahlen steigen von Jahr zu Jahr, aber kaum jemand untersuchte die Gründe dafür. 2018 machte dann zumindest das Bistum Essen eine Umfrage nach dem Warum. Die Antworten: Meist geht ein Entfremdungsprozess voraus, fast immer sind es auch persönlich enttäuschende Erlebnisse. Geschichten, die erzählt werden, wenn man fragt. Bei Frau Proestel, im Zimmer 47 des Amtsgerichts, und im Gang davor. 

Das Geld

Marvin Berning, braune Haare, Ende 20 sitzt auf einem von vier Holz-Klappstühlen im Flur und wartet ruhig. Die 30 Euro – Verwaltungsgebühr, die an die Stadt geht – hat er schon am Schalter bezahlt. Den Beleg in der Hand. Jetzt, wo er anfange in Vollzeit zu arbeiten, sagt Berning, sehe er es nicht mehr ein, für etwas zu zahlen, wozu er keinen Bezug habe. Die Kirchensteuer ist laut Bistum Essen der häufigste Austrittsgrund. Gerade wenn der erste Job ansteht, mit Mitte 20, sei die Mitgliedschaft eher Kosten-Nutzen-Abwägung. Oft scheitert es am Nutzen.

Was ihn mit der Kirche verbinde? Der Gerade-noch-Katholik Berning überlegt. „Ich habe immer gesagt, die Zehn Gebote. Aber jetzt habe ich sie letztens noch mal gelesen und dann stand da eigentlich was ganz anderes als ich gedacht habe.“ Und sonst? Kurze Pause. „Nächstenliebe vielleicht.“ Dann geht er rein. Gesprochen wird nicht viel. Dann ist Berning konfessionslos.

Das Weltbild

„Mein Religionslehrer hat immer gesagt: Die katholische Kirche ist die größte Sekte, die es gibt“, sagt eine Frau – 36 Jahre alt und Architektin – als sie aus Frau Proestels Zimmer tritt. „Eigentlich hatte er recht.“ Sie sei auf einem katholischem Mädchengymnasium gewesen, später habe sie an Freizeitangeboten und Fahrten der Kirche teilgenommen. Früh schon habe sie gehadert.

Heute sagt sie: „Viele Umgänge in der Kirche sind nicht mehr zeitgemäß. Das kann ich einfach nicht mehr unterstützen.“ Eine kirchliche Hochzeit? War eh nie ihr Traum. Ihre Messdiener-Karriere habe sie aufgrund einer Weihrauch-Allergie nach einem Monat beendet. Bei ihrer Kommunion musste sie sich direkt vor dem Altar übergeben, sagt sie.

Die Zweifel

Frau Proestel sagt, sie schickt auch Leute wieder nach Hause, wenn sie merkt, dass sie unsicher sind. Aber Annika Heilmann – so soll sie hier heißen, weil sie wie so viele in diesem Text nicht will, dass gleich alle vom Austritt erfahren – möchte jetzt raus. Sie nimmt Platz und die Proestel’schen Automatenfragen beginnen: Welche Kirche? Die Postleitzahl? Der Familienstand? Frau Proestel klingt wie eine Kassiererin, die noch beiläufig nach der Payback-Karte fragt. Am Ende des Fragebogens kommt die freiwillige Angabe zum Taufort. Dort lagert die persönliche Akte über jedes Kirchenmitglied. Wer es der Kirche schwermachen will, der nennt seinen Taufort nicht. Frau Heilmann lässt das Feld leer. 

Heilmann sagt, sie hätte das vor 20 Jahren schon machen sollen, als sie geschieden wurde. Hat sich aber nicht getraut. Als sie ihren Ausweis zurückbekommt, wird sie dann doch ein bisschen nervös. „Wo könnte ich denn, so ganz reintheoretisch, bei Bedarf wieder eintreten?“ – „Nicht bei uns“, sagt Frau Proestel. „Beim Pfarramt ihrer Gemeinde.“ – „Und die Austrittsbescheinigung, die per Post kommt, die reicht?“ – „Ja“, sagt Frau Proestel. Reicht.

Die Skandale

Eine Frau mit langen blonden Haaren und schwarzer Brille stellt sich neben die Holztür mit dem silbernen Griff. Ihr Mann ist mitgekommen. Es passe ja gut, sagt die Frau, dass heute jemand von der Zeitung da sei. Sie habe wegen der Berichterstattung der vergangenen Wochen beschlossen, aus der Kirche auszutreten. Missbrauchsskandal. So eine Institution will sie nicht mehr unterstützen. Obwohl sie selbst als Erzieherin in einer katholischen Grundschule angestellt sei. Oder gerade deswegen. „Ich arbeite mit Kindern. Wenn ich da mitbekomme, was in anderen Institutionen mit den Kindern passiert, kann ich da wirklich nicht mehr hinterstehen.“ Früher war es anders. Jeden Sonntag ging sie mit dem Bruder und den Eltern in die Kirche. Beten vor dem kleinen Licht auf dem Altar ihrer Oma. Aber heute? „Nicht mehr meins“, sagt sie. Die Tür geht auf, das Zimmer wird frei. „Willkommen im Klub“, ruft der Mann.

Die Entfremdung

Kurz vor Ende der Öffnungszeiten, um kurz vor zwölf, kommt ein junger Mann, 21 Jahre alt, in Frau Proestels Büro. Mehr gestolpert als gelaufen. Er trägt Trainingsjacke an den Schultern, Flaum im Gesicht. Frau Proestels übliche Fragen starten wieder langsam. Und scheitern früh.

„Aus welcher Kirche möchten Sie austreten?“ – „Wie jetzt?“ - „Na, evangelisch oder römisch-katholisch?“ – „Ach so … evangelisch, glaube ich.“ Frau Proestel hält kurz inne, mustert skeptisch. „Glauben Sie?“ – „Ja“, sagt der Mann mit der Entschlossenheit eines Agnostikers. Während Frau Proestel die Daten vom Ausweis ins System überträgt, beginnt er plötzlich auf seinem Handy zu tippen. Und dann, ja, dann das: „Hallo, Mama. Du, sag mal, ich bin evangelisch, ne?“ Stille. Der Mann atmet durch, wendet sich jetzt wieder zu Frau Proestel: „Sorry. Bin doch katholisch.“  

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