„Menschenverachtend“Kölner Polizei deckt riesiges Kindesmissbrauchs-Netz auf

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Die Kölner Ermittler gehen von einem der größten Missbrauchs-Fälle aus.

  • Achtung: Dieser Text enthält explizite Schilderungen sexualisierter Gewalt an Kindern!

Köln/Wermelskirchen – Man könne den Leuten halt nur „vor die Stirn gucken, nicht dahinter“, sagt die blonde Frau, die sich aus dem Fenster lehnt. Es ist früher Montagabend, auf dem kleinen Weg im Wermelskirchener Stadtteil Tente fahren zwei Mädchen mit ihren rosa Kinderrädern. In einem der gepflegten Gärten vor den zahlreichen Einfamilienhäuser toben Kinder, während der Vater wohl den Rasen inspiziert.

„Ein Idyll, haben wir geglaubt“, sagt die Blonde. Als sie erfahren habe, dass gegen den Nachbarn Marcus R. wegen des Verdachts „eines monströsen Kindermissbrauchs“ ermittelt wird, sei sie „nahezu verzweifelt“. „Das ist die Hölle und da weiß man doch gar nicht mehr, wem man überhaupt vertrauen kann“, meint die Anwohnerin.

Schock bei den Anwohnern sitzt tief

„Wir haben selber Enkelkinder. Nicht auszudenken, das alles“, sagt sie. Man denke eben, „so etwas passiert nur in schwierigen sozialen Milieus“, ergänzt ihr Mann. „Aber nein, das gibt es in allen Gesellschaftsschichten. Und plötzlich ploppt es sogar direkt vor der eigenen Tür auf.“ Seine Namen möchte keiner der Anwohner in der Zeitung lesen. Zu groß ist der Schock. Zu groß wohl auch die Sorge, dass ihre Straße zum Symbol für den Missbrauch werden könnte. Dass das Geschehen sie noch lange begleiten könnte.

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Es ist ein Freitagnachmittag Anfang Dezember vergangenen Jahres in einer beschaulichen Siedlung im bergischen Wermelskirchen, als ein Spezialeinsatzkommando (SEK) der Kölner Polizei das Einfamilienhaus von Marcus R. stürmt.

Über 30 Terabyte Datenmaterial von „nicht vorstellbarer Brutalität“

Was die Ermittler in den folgenden 17 Tagen auf R.s Rechner und in der gesamten Wohnung finden, ist eine grauenvolle Sammlung menschlicher Abgründe. Mehr als 230 Datenträger mit insgesamt 32 Terabyte Bildmaterial von schwerstem sexuellen Missbrauch an Jugendlichen, Kindern und Babys in „nicht vorstellbarer Brutalität“, wie die Ermittler sagen.

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Allein auf einer einzigen Festplatte befinden sich 3,5 Millionen Fotos und 1,5 Millionen Videos, die zum Teil zurückreichen bis ins Jahr 1993. Marcus R., ein verheirateter, aber kinderloser und nicht vorbestrafter Angestellter, gesteht die Taten und kommt in Untersuchungshaft.

Verdächtiger prahlte mit Taten im Darknet

Inzwischen fürchten die Ermittler, dass sich dieser Fall sexuellen Missbrauchs zum größten in der jüngeren deutschen Geschichte ausweiten könnte. Die Ermittlungen der vergangenen Monate haben ergeben, dass sich allein R. im Kölner Umland von 2005 bis 2019 insgesamt an zwölf Kinder vergangen haben soll. Im Darknet und auf anderen virtuelle Kanälen prahlte Marcus R. mit seinen Taten, tauschte in Eins-zu-Eins-Gesprächsforen Videos und Bilder zum Missbrauch kleiner Kinder und von Säuglingen aus.

Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ soll er Gewaltfantasien ausgelebt haben, um Säuglinge und Kleinkinder mittels Oralverkehr in Atemnot zu bringen. Zudem soll er mit Chatpartnern über einen Erstickungstod von kleinen Jungen und Mädchen gesprochen haben.

Polizeipräsident Falk Schnabel ist erschüttert

Inzwischen wird außerdem gegen 72 Beschuldigte in Deutschland und einen in Österreich ermittelt, die mit dem Hauptverdächtigen in Kontakt gestanden, Bildmaterial ausgetauscht sowie selbst weitere Taten begangen haben sollen.

Polizei und Staatsanwaltschaft laden deshalb zu einer Pressekonferenz im Kölner Polizeipräsidium, in der das Grauen der Taten wenigstens in Ansätzen deutlich wird. Polizeipräsident Falk Schnabel ist sichtbar und hörbar erschüttert, als er davon berichtet, wie er zumindest einen kleinen Teil des Materials selbst gesichtet hat.

„Ein solches Ausmaß an menschenverachtender Brutalität und gefühlloser Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid von kleinen Kindern, den Schmerzen und ihren Schreien und ihrer offensichtlichen Angst ist mir noch nicht begegnet“, sagt Schnabel. R. soll selbst Filme über den Missbrauch seiner Schützlinge gedreht haben. „Seine Gewaltfantasien überstiegen jegliches Maß aller Vorstellungen“, berichtete ein Ermittler. Gleich 40 Minuten lang zwang er ein Opfer zum oralen Sex.

Identifiziert sind anhand von Bildern, Videos und Chats bisher 33 Missbrauchsopfer, davon ein Drittel Mädchen und zwei Drittel Jungen. Das jüngste Opfer war zum Tatzeitpunkt gerade einen Monat alt, das älteste 14 Jahre. Auf dem sichergestellten Material seien „brutalste Vergewaltigungen“ auch von Babys zu sehen, die anschließend in Chats mit grausamen Gewaltfantasien kommentiert worden seien, sagt Fachermittler Jürgen Haese.

Kölner Staatsanwaltschaft „bis ins Mark erschüttert“

Die Täter hätten ihre Opfer zuvor teils mit Medikamenten und Salben behandelt, die betäubend wirkten. Joachim Roth, Leiter der Kölner Staatsanwaltschaft, sagt, der Anblick der Bilder hätte ihn „bis ins Mark erschüttert“. Weil einige der Taten im Säuglingsalter stattfanden, erfuhren einige Opfer erst jetzt im Zuge der Ermittlungen als junge Erwachsene davon, ohne sich bewusst daran erinnern zu können.

Weil R. offenbar sein Material akribisch auflistete, gaben die Behörden ihren Ermittlungen den Namen „BAO Liste“ (Besondere Aufbauorganisation). Offenbar sollen sowohl R. als auch mehrere andere Täter online ihre Dienste als Babysitter angeboten haben und sich teilweise während der Betreuungszeit in den Wohnungen der Familien an den Opfern vergangen haben.

Dimension könnte „BAO Berg“ überschatten

Auch Väter, Stiefväter, Brüder, Nachbarn und ein Großvater sollen zu den Tätern gehören. Die Dimension des Verfahrens, für das im Kölner Präsidium 35 Beamtinnen und Beamte tätig sind, wird auch im Vergleich zu dem Missbrauchskomplex von Lügde und Bergisch Gladbach deutlich, in dem die „BAO Berg“ ermittelte. Die bisherigen Erkenntnisse gäben Anlass zu der Befürchtung, dass die „BAO Liste“ die „BAO Berg“ noch in den Schatten stellen könnte, sagte Ermittler Haese. „Auch wenn man menschliches Leid nicht vergleichen kann.“

Auf die Spur der Kinderschänder gerieten Polizei und Justiz durch Zufall: In Berlin wurde im Sommer 2021 ein mutmaßlicher Komplize ins Krankenhaus eingeliefert. Bei Sönke G. entdeckte man auf dem Handy und seinem Computer Missbrauchsaufnahmen. Nach der Strafanzeige erfolgte am 4. August die Verhaftung des 28-jährigen Lichttechnikers. Er erklärte sich ebenfalls dazu bereit, seine Mittäter zu identifizieren. Somit führte er auch auf die Spur ins bergische Wermelskirchen.

Marcus R. soll sich zu Taten per Video zugeschaltet haben

In drei Fällen soll sich der Berliner zusammen mit Marcus R. an Kindern vergangen haben. Zweimal schaltete sich der Wermelskirchener dazu, in einem Fall nahm er selbst an dem Missbrauch teil. Neben dem Berliner Sammelverfahren entwickelten die NRW-Behörden binnen sechs Monaten einen eigenen Komplex mit mutmaßlich monströsen Dimensionen.

Der Berliner Sönke G. wurde Anfang Mai durch die 9. Große Strafkammer unter anderem wegen besonders schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und wegen Herstellung kinderpornografischer Schriften zu einer Freiheitsstrafe von insgesamt zwölf Jahren verurteilt. Im Anschluss verhängte das Gericht die Sicherungsverwahrung. Das heißt, dem Täter droht eine lebenslange Haftstrafe.

Schuldspruch in Berlin

Laut dem Urteil hat der Angeklagte 26 Jungen, darunter Babys und Kinder mit schwerer geistiger Behinderung missbraucht. Das jüngste Kind war sieben Monate alt, das älteste acht Jahre. Der Schuldspruch listet insgesamt 95 Missbrauchstaten auf.

Bei seinen Attacken hat er dem „Spiegel“ zufolge mitunter seinen schreienden Opfern den Mund zugehalten. „In den weitaus meisten Fällen“, so der Richter, hat Sönke G. seine Taten gefilmt. Auch er hatte sich im Internet als Babysitter angedient.

Besonders ein Pädokrimineller soll ihn laut Richterspruch zu seinen Taten angestachelt haben: Der mutmaßliche Kinderschänder aus Wermelskirchen Marcus R.. „Es ist ein Ausnahmefall, dass ein nicht einschlägig Vorbestrafter in Sicherungsverwahrung geht“, sagte der Vorsitzende Richter. Doch bei Sönke G. bestehe laut psychiatrischer Gutachterin ein Hang zu weiteren Taten. Seine ausgeprägte pädosexuelle Störung – „seit Jahren erkannt, aber noch nicht behandelt“ – führe zu einer Wiederholungsgefahr.

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