VeedelspaziergangDurch Mülheim mit Frau Fussbroich

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Kinderstreiche: Klingelmäuschen bei Paul Kuhn am Wiener Platz

Kinderstreiche: Klingelmäuschen bei Paul Kuhn am Wiener Platz

Annemie Fussbroich steht auf ihrem Balkon. Der frisch gefärbte rote Bob, kinnlang und mit Pony, leuchtet in der Sonne, die an diesem warmen Frühlingstag eine Ahnung von Sommer vermittelt. Dennoch: „Mir isset kalt“, raunt sie und reibt sich die Oberarme. Der kölsche Akzent weckt Erinnerungen an vergangene Fernsehnachmittage. „Ach wat“, Fred Fussbroich raunt zurück. Er hat es sich gemütlich gemacht. In seinem froschgrünen Unterhemd sitzt er neben ihr auf dem Balkon. Rote und violette Geranien säumen das Geländer. Draußen winselt Norbert, der Zwergschnauzer vom Nachbarn. Es ist ruhig, hier in Buchheim. „Wie geht es?“, fragt Fred Fussbroich und freut sich, dass er heute nicht im Mittelpunkt stehen wird. Denn es ist Annemie, die mit uns durch die Straßen spaziert. Wir wollen nach Mülheim, in das Viertel ihrer Kindheit.

Wir setzen uns noch kurz ins Wohnzimmer, der Fernseher läuft: „Achtung Kontrolle – Einsatz für die Ordnungshüter“. Fred Fussbroich dreht die Lautstärke runter. „Wat die alles schmuggeln“, sagt er kopfschüttelnd. „Unglaublich.“ Auf dem Sofa der Fussbroichs zu sitzen, fühlt sich fast schon heimisch an. Die schwarz-rote Schrankwand, der große TV-Flachbildschirm darin, Freds Relaxsessel davor, ein Zettelblock auf dem Fliesentisch – alles hat seinen Platz. So war es immer.

Kölnweit Kult

Sie sind Kult, die Fussbroichs, zumindest kölnweit. In der TV-Doku-Soap „Die Fussbroichs“ zeigten Friedrich „Fred“, Annemarie „Annemie“ und Sohn Frank ihre Sicht der Welt – ungeschminkt und in kölschem Dialekt, zwischen Nachtschicht, Kaffeeklatsch, Urlaubsträumen und Fitnessstudio. 99 Folgen wurden von 1991 bis 2002 im WDR-Fernsehen ausgestrahlt – die 100. Sendung lief erst im Dezember 2003 – und gaben einen ungefilterten Einblick in das Leben einer Kölner Arbeiterfamilie. „Ich hab’ immer vergessen, dass das Gott und die Welt sieht“, sagt Annemie Fussbroich. „Es hat uns einfach Spaß gemacht.“ An die Kameras und Tonassistenten in ihrer Küche, in ihrem Wohnzimmer oder im Urlaub auf Mallorca haben sie sich nicht gewöhnen müssen, erzählt sie. „Das war einfach so. Wir haben gesagt, wir machen das, und dann haben wir das durchgezogen.“ In enger Jeans und auf grauen High-Heels spaziert die 66-Jährige durch die Johanniterstraße in Buchheim. Seit 45 Jahren lebt die Familie hier in einer kleinen Dreizimmerwohnung. Sohn Frank zog mit 18 aus. Er wohnt heute mit Frau Elke in Vettweiß. Die Probleme der Vergangenheit – Frank Fussbroich wurde bereits wegen diverser Betrugsfälle zu Geld- und einer einjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt – hat die Familie längst vergessen.

Aufgewachsen ist Annemie Fussbroich bei ihren Großeltern in Mülheim. In dem Dreieck zwischen Danzier- und Deutz-Mülheimer Straße, das durch die Mülheimer Brücke im Norden begrenzt wird, ist sie zur Schule gegangen und auf die Kirmes, ins Kino und zum sonntäglichen Tanztee. Dort hat sie ihren Fred kennengelernt und ihn geheiratet. Erinnerungen, die sie zum Lachen bringen, während wir über die Frankfurter Straße spazieren, die Buchheim und Mülheim verbindet. Irgendwann würde sie ihre Geschichte aufschreiben lassen, murmelt sie. Vielleicht würde sie dann auch erzählen, warum sie nicht bei ihren Eltern gelebt hat. Heute fehlen ihr dafür die Worte.

Vor dem Eiscafé Cortina auf der Frankfurter Straße halten wir an. Sie hat uns angemeldet. „Während meiner Schwangerschaft kam ich oft hierhin“, erzählt sie. „Weißt du noch?“, fragt sie über die Theke. „Dann hab ich immer ein Eis gegessen oder Kaffee getrunken. Um neun Uhr bin ich dann rüber zum Dr. Dinse zur Vorsorge.“ Doch Besitzer Dario hat zu viel zu tun, um mit ihr in Erinnerungen zu schwelgen. Die Schlange vor der Tür wird immer länger. In dem Eiscafé, das 1954 seine Türen öffnete, hat Annemie Fussbroich mit sieben Jahren ihr erstes Eis gegessen. Da gab es nur Erdbeer, Vanille und Schokolade. Heute bestellt sie Pistazie – mit Sahne. Die Erinnerungen an ihre Schwangerschaft bringen sie ins Schwärmen. Wir setzen uns. In der Eisdiele brummt es, Hochbetrieb. „Ich sah so hübsch aus“, sagt sie, „war eine schöne Schwangere. Ich hab mir immer meine Haare hochgesteckt, mit Löckchen. Süß sah das aus. Und dann ein kurzes, weites Kleidchen. Das vergesse ich nie.“ Frank, der am 17. Juni 1968 im Mülheimer Dreikönigen-Hospital zur Welt kam, kurz nach ihrem ersten Hochzeitstag, sei ein Wunschkind gewesen, erzählt sie. „Der war schnell da. Zehn Tage zu früh. So neugierig war der.“ Ein zweites Kind kam für das Ehepaar nie in Frage. „Zwei Kinder sind zwei Kinder. Dafür musst du auch sorgen können“, sagt Annemie Fussbroich. „Ich wollte nur ein Kind. Und dem alles geben.“

Annemarie „Annemie“ Fussbroich wurde 1947 in Bergisch Gladbach geboren. Die gelernte Stenosekretärin arbeitete zuletzt als Verwaltungsangestellte im Schulamt der Stadt Köln. Die Serie „Die Fussbroichs“ wurde von 1989 bis 2001 im WDR Fernsehen ausgestrahlt. Mitte 2014 soll die zweite Fussbroichs-DVD erscheinen.

Glückliche Kindheit

Gestärkt spazieren wir weiter. Auf dem Weg in Richtung Danzierstraße bleiben wir erneut stehen: Dieses Mal vor einem Hochhaus, Wiener Platz 2. Der Wind fegt über den menschenleeren Vorplatz. „Hier hat Paulchen Kuhn gewohnt“, erzählt sie. „Der Klavierspieler. In der zwölften Etage. Bei dem haben wir immer Klingelmäuschen gespielt.“ Erinnerungen an eine glückliche Kindheit. Während wir den Bergischen Ring überqueren, erzählt sie von der ersten Ampel im Viertel, die genau hier installiert wurde, von Karneval und Knutschereien auf der Kirmes. „In der Raupe“, lacht sie. „Weil da das Verdeck zuging.“ Wie sie Pfarrer Maul die „Äppel“ aus dem Garten geklaut hat. Oder wie sie mit Freundin Käthe, mit der sie noch heute befreundet ist, am Rhein Rollschuh fuhr.

Bald ist die Windmühlenstraße nicht mehr weit. Hausnummer 115a. Annemie Fussbroich war seit dem Tod ihrer Großmutter im Jahr 1992 nicht mehr hier; an dem Ort ihrer Kindheit. „Ach Omilein“, ihr kommen die Tränen, als wir vor der blau lackierten Haustür stehen. Mit 19, kurz nach ihrer Hochzeit, zog sie aus, in die Keupstraße. Es war die erste gemeinsame Wohnung mit Fred. „Das war schwer. Die Oma und der Opa standen am Fenster, und ich konnte nicht zurückgucken. Da liefen mir die Tränen. Das tut mir jetzt noch weh“, erzählt sie. „Ja, das war Liebe.“ Ihr kommen Erinnerungen an Weihnachten, an die Gartenarbeit in den kleinen Vorgärten, die Pflastersteinen weichen mussten, und an den Eismann, der im Sommer fast jeden Tag kam. „Die haben schon das Beste aus mir gemacht, die Oma und der Opa. Die haben mir viel gegeben.“

Liebe war es auch, als Annemie und Fred Fussbroich 1967 heirateten; in der Herz-Jesu Kirche, direkt gegenüber der Wohnung ihrer Großeltern. Wir setzen uns auf den Spielplatz, der sich rechts der Kirche anschließt. Früher befand sich hier der Garten des Pfarrers, aus dem sie die Äpfel stibitzte. Kennengelernt hatten sich Fred und Annemie nicht weit von hier in der Wallklause. Jeden Sonntag trafen sie sich dort zum Tanz. Mit 15 Jahren sprach sie ihn an. „Der hat mir schon gefallen“, erzählt sie. „Aber ich war leider zu jung.“ Denn Fred, sieben Jahre älter, schickte sie beim ersten Versuch weg. „Ich war schon gut dabei für mein Alter. Also fraulich gut ausgestattet. Ich sah älter aus, als ich war. Aber man ist eben jung, man wird ja nicht älter, nur weil man gut dabei ist.“ Sie lacht. „Du kannst in nem’ Jahr noch mal wieder kommen“, habe Fred dann zu ihr gesagt. „Und nach einem Jahr stand ich dann wieder auf der Matte.“ Das war 1963. In drei Jahren werden sie Goldene Hochzeit feiern.

Wir machen uns auf den Weg zurück nach Buchheim, laufen wieder über die Frankfurter Straße, die für Annemie Fussbroich ein Stück Heimat ist. „Ich würde das hier alles vermissen“, sagt sie. „Ich muss ins Zentrum von Mülheim mindestens einmal die Woche. Das zieht mich irgendwie magisch an. Das ist nichts Besonderes – also für mich schon –, aber nichts, was man unbedingt gesehen haben muss. Aber die Verbundenheit ist schon da. Wenn ich wegziehen würde, bekäme ich Heimweh und müsste zurück kommen – hierhin auf die Frankfurter Straße.“

Bei Merzenich trinken wir noch einen Milchkaffee, dazu einen Nougatriegel, den wir uns teilen. In der Bäckerei, zwischen Eulenberg- und Rhodiusstraße, trinkt Annemie Fussbroich gerne ihren Nachmittagskaffee. Immer am Fenster. „Schon immer und ewig.“

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